Entwicklung von Business Ecosystems im DACH-Raum und das Potential «digitaler Akten» als Ausgangspunkt für integrierte Services

Das Competence Center Ecosystems eruiert seit vier Jahren, welche Business Ecosystems in der DACH-Region entstehen und sich weiterentwickeln. Ergänzt wird dieser Ecosystem-Radar, dessen Grundstruktur wir bereits in diesem Blogbeitrag beschrieben haben, um ausgewählte internationale Business Ecosystems. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf etablierten Business Ecosystems, sondern auch auf jungen Unternehmen, die aufgrund ihrer Ausgestaltung die Anlagen für ein Business Ecosystem in sich tragen. 

Im Rahmen des jährlichen Updates ergeben sich interessante Erkenntnisse hinsichtlich des Entstehens, aber auch der Einstellung digitaler Business Ecosystems.  

Ecosystemradar Stand Mai 2023 

Quelle: Competence Center Ecosystems, Workshop 2, Karlsruhe, Mai 2023 

Im vergangenen Jahr wurden einige spannende Initiativen eingestellt. Dazu zählen dezentrale Organisationen wie Joltee, eine DLT-basierte Plattform für e-Autos. Diese Plattform sollte die Fahrer, Versicherer, Automobilhersteller, öffentliche wie private Partner verbinden und später um einen Marktplatz ergänzt werden. Ebenfalls eingestellt wurde die DLT-basierte health bank (CH), welche dem Bürger eine autonome Verwaltung seiner Gesundheitsdaten ermöglichen sollte. Auch bei weiteren DLT-basierten Lösungen, die durch eine Vielzahl von Playern getragen werden, scheinen die Fortschritte verlangsamt zu sein.1 Es entsteht der Eindruck als wären solche dezentrale Lösungen, die nicht durch einen prominenten Player bzw. Unternehmen forciert promoted werden – welche häufig dann auch ihre Kunden auf die entsprechende Plattform lenken – nur sehr schwer umsetzbar.2 Hier stellt sich die Frage, ob nicht die öffentliche Hand solche Initiativen fördern könnte, insbesondere wenn es sich um für den Bürger relevante Daten handelt.3 

Weiterhin wurden verschiedene Multibanking-Apps wie Heymoney (Allianz Versicherung) oder Yolt (ING Diba) beendet. Eine Hypothese ist, dass Finanzdienstleister generell nicht die optimalen Anbieter für eine Multibanking-Lösung sind und dies besser durch einen neutralen Anbieter erfolgen würde. Weitere Rückzüge von Business Ecosystems – wie z.B. die Sperbank – sind infolge des Ukrainekriegs zu beobachten.  

Neben des Scheiterns DLT-basierter Netzwerke, der Schliessung von Multibanking-Angeboten und des Impacts des Ukraine-Krieges, sind aber auch Erweiterungen im Service-Offering insbesondere bei den international agierenden Business Ecosystems zu beobachten. So hat bspw. Uber als Dienst zur Personenbeförderung seine Dienstleistungen um den Transport von Fracht und Lebensmittel ergänzt und sich jetzt auf den Luftraum als Transportdestination fokussiert.  

Digitale Akten 

Eine grundlegende Voraussetzung, um Kunden integrierte Lösungen anzubieten, ist das Konzept der «digitalen Akte». Darunter verstehen wir eine Sammlung relevanter Daten bezogen auf ein spezifisches Objekt, auf das sich Lösungen fokussieren. Um allen Serviceerbringern zu ermöglichen, individuelle passgenaue (Micro-)Services einzubringen, braucht es den Zugriff auf diese Daten. Solche digitalen Akten entstehen zurzeit in allen von uns beobachtbaren Business Ecosystem-Bereichen. 

Die folgende Graphik zeigt ausgewählte Beispiele digitaler Akten in verschiedenen Business Ecosystems und ist nicht als vollständig zu betrachten.  

Digitale Akten in ausgewählten Business Ecosystems 

Quelle: Competence Center Ecosystems, Workshop 2, Karlsruhe, Mai 2023 

Wir haben oben schon das Konzept der digitalen Akten (im Kontext der health bank (CH)) angesprochen. Während die digitale Patientakte der health bank (CH) eingestellt wurde, werden solche Angebote interessanterweise von der Teachers Multual Bank Limited in Australien und vom Unternehmen Teladoc in über 120 Länder international offeriert. Teladoc nutzt in erster Linie Telefon- und Videokonferenzsoftware, um medizinische Versorgung aus der Ferne auf Abruf anzubieten. Dabei können sich Patienten jederzeit bei dem Dienst anmelden und innerhalb weniger Minuten mit einem zertifizierten, staatlich zugelassenen Arzt verbunden werden. Die Ärzte des Unternehmens behandeln vor allem «Nicht-Notfälle» wie Grippe, psychische Probleme und dermatologische Erkrankungen. Das Unternehmen verfügt über ein Netzwerk von 55.000 Experten, die in 450 medizinischen Spezialisierungen tätig sind. Einerseits bietet Teladoc Direct-to-Customer (D2C) Beratung bei psychischen Erkrankungen (betterhelp) für den Endkunden an. Andererseits erzielt Teladoc den überwiegenden Umsatz durch Business-to-Business (B2B) Angebote, indem es Unternehmen wie SAP oder Bank of America medizinische Leistungen für deren Mitarbeiter bereitstellt. Das Wachstum von Teladoc ist eindrücklich. So erfolgte eine Verdoppelung der Umsätze auf 2 Mrd. Dollar von 2020 auf 2021, wobei bisher noch nie Gewinn erzielt wurde.4 Das Unternehmen nutzt geschickt die Aspekte des Netzwerkeffektes: Je mehr Daten der Patient und seine Ärzte auf die Plattform hochladen, desto mehr Informationen stehen für medizinische Auswertungen zur Verfügung, weshalb wiederrum der Anbieter interessanter für noch nicht angebundene Ärzte wird. Weiterhin werden die Daten – zum Teil auch entgeltlich – für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt. Ob es aus Sicht der Arbeitnehmenden zu begrüssen ist, wenn eine telemedizinische Behandlung bzw. Konsultation am Arbeitsplatz stattfindet – wie es seitens Teladoc als Unternehmensvorteil angepriesen wird– ist indes bzgl. Vertraulichkeitsgründen fraglich, da Teladoc am 2. März 2021 im Bereich D2C bereits 7.8 Mrd. Dollar als Entschädigung für die Weitergabe von Patientendaten für Werbezwecke zahlen musste.5 Aber auch bezogen auf den Mensch – jenseits der Gesundheit – werden Unmengen an Daten bzgl. des Konsumverhaltens gesammelt, wie bspw. von Netflix, Google oder Meta. Eine weitere Facette im Kontext des Datenobjekts Mensch ist die Sicher- bzw. Erstellung digitaler Identitäten (KYC).6 

Ein Wettrennen findet zurzeit auch im Ecosystembereich «Wohnen» statt. Je mehr Informationen die Anbieter über die selbstgenutzte Immobilie haben, desto besser können zugehörige Services wie Finanzierung, Renovierung, Energiesparmassnahmen, aber auch im Bereich Gartenunterhalt angeboten werden. Ein Teil der Hausdaten wie Alter, Grösse etc. sind öffentlich verfügbar.7 Informationen über durchgeführte Renovierungen muss bisher der Eigentümer selbst nachpflegen. Hier werden häufig spezifische Anreize genutzt, um den Eigentümer dazu zu bringen, die jeweiligen Daten hochzuladen. So offerieren bspw. einige Anbieter quartalsweise neue Schätzungen des Hauswertes im Gegenzug zu den Daten.8  

Im Corporate-Bereich sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Das Anlegen von digitalen Akten ist der Einstieg bzw. die Voraussetzung für die Schaffung von digital Twins, welche das virtuelle Abbild eines Objekts oder Systems aus der realen Welt wiedergeben. Neben einzelnen Gegenständen lassen sich damit auch Prozesse, Dienstleistungen sowie ganze Fabriken in der digitalen Welt darstellen.9 Diese können für Themen wie Predictive Maintenance genutzt werden – und dies bezieht sich nicht nur auf Maschinen, sondern auch auf Menschen.10  

Die Finanzindustrie hat nun die Chance, ihre Services in die jeweilige Customer Journey der Kunden passgenau und individualisiert zu integrieren. Neben den geeigneten Daten sind herausragende Services, entsprechende IT-Capabilities und ein Ecosystem-orientiertes Mindset weitere Voraussetzungen dafür. 


Quelle

[1] Ein Beispiel hierfür ist cardossier, einer Lösung zur Verwaltung aller KFZ-Daten auf der DLT mit Playern wie Amag, AXA, Mobilier, Postfinance, Porsche und Strassenverkehrsamt Argau. Managing the life cycle of a vehicle in a decentralized, digital ecosystem. – Cardossier

[2] Weitere Informationen zur Entwicklung von DLT- und AI basierten Business Ecosystems finden Sie hier: Innovative Technologien fördern die Entwicklung von Ecosystemen | ccecosystems.news

[3] So gibt es das Konzept «Digitaler Datenräume» als Basis solcher Services, wie vom BAKOM und EDA vorgestellt. Förderung vertrauenswürdiger Datenräume und der digitalen Selbstbestimmung (admin.ch)

[4] Teladoc Bilanz/GuV | finanzen.ch

[5] FTC says online counseling service BetterHelp pushed people into handing over health information – and broke its privacy promises | Federal Trade Commission

[6] PowerPoint-Präsentation (openbankingproject.ch)

[7] GWR | Eidg. Gebäude- und Wohnungsregister (housing-stat.ch)

[8] Hausbewertung | Marktwert online berechnen (houzy.ch)

[9] Microsoft erklärt: Was sind Digital Twins? | News Center Microsoft

[10] Was ist eigentlich ein digitaler Patient*innen-Zwilling? (siemens-healthineers.com)

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Ivana Vukadinovic
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