Koevolutionäre Perspektiven – Was wir aus der Natur über Organisationsansätze lernen können

Der Begriff des Business Ecosystems wurde durch James Moore (Moore, 1993) geprägt und geht damit mehr als 20 Jahre zurück. Das Konzept beschreibt, im weitesten Sinne, Unternehmen, welche in branchenübergreifenden Netzwerken tätig sind und sich durch kooperative und gleichzeitig kompetitive Aktivitäten gemeinsam mit dem Netzwerk evolutionär entwickeln. Dabei steht und fällt der Erfolg des einzelnen Akteurs unmittelbar mit dem Erfolg des gesamten Ecosystems (Iansiti & Levien, 2004). Ecosysteme entstehen um einen gemeinsamen Zweck, welcher sich in einem oder mehreren Services äussert, die durch einen Kunden genutzt bzw. konsumiert werden. Jeder einzelne Akteur bringt dabei seine individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten mit, welche schlussendlich durch einen Orchestrator so koordiniert bzw. orchestriert werden, dass diese für alle Parteien gewinnbringend im Netzwerk positioniert werden können. Ist es einzelnen Teilnehmern nicht möglich, vom Ecosystem zu profitieren, fehlt der Anreiz, um am Ecosystem zu partizipieren.

Symbiose als Ansatz zur Charakterisierung wirtschaftlicher Akteure

Die enge Zusammenarbeit, hohe Abhängigkeit und gemeinsame, evolutionäre Entwicklung der Akteure im Netzwerk lassen dabei schnell an ein anderes Konzept aus der Biologie denken: Symbiose. Der Begriff der Symbiose geht auf den deutschen Naturwissenschaftlicher Anton de Bary zurück, der 1887 den Begriff Symbiose nutzte, um das generelle Zusammenleben verschiedenartiger Arten zu beschreiben. Generell ist der Begriff eher positiv belegt und beschreibt Win-Win Beziehungen, das heisst Beziehungen zwischen verschiedenen Arten, bei denen beide Arten durch die Präsenz bzw. die Interaktion miteinander profitieren. Dies trifft beispielsweise auf Bestäubungssymbiosen zu, bei denen Pflanzen von Insekten profitieren, indem diese deren Pollen weiterverbreiten. Naturwissenschaftlicher unterscheiden Symbiosearten anhand von drei grundlegenden Kriterien: 1) Grad der wechselseitigen Abhängigkeit, 2) räumliche Beziehung der Arten, 3) Art des erzielten Nutzens. Ganz im Sinne der Ecosystem-Analogie beschreibt das Konzept der Symbiose daher, wie verschiedene Arten (oder im Falle von Business Ecosystems wirtschaftliche Akteure) miteinander in Beziehung stehen. Das Konzept der Symbiose kann je nach Perspektive dabei helfen, ein besseres Verständnis hinsichtlich der Positionierung eines Akteurs im Ecosystem und seiner Beziehungen zu anderen Akteuren zu entwickeln.

1) Der Grad der wechselseitigen Abhängigkeit (Fritsche, 2016) beschreibt, inwiefern ein Organismus in einer Symbiose noch ohne die jeweils andere Art lebensfähig wäre. Dabei lassen sich drei Stufen unterscheiden: die Protokooperation (oder Allianz), bei der beide Arten punktuell voneinander profitieren, jedoch ohne einander vollständig lebensfähig sind. Der Begriff Mutualismus beschreibt eine regelmässige, jedoch nicht lebensnotwendige Beziehung verschiedener Arten. Die Eusymbiose beschreibt eine Beziehung zwischen verschiedenen Arten, die für das weitere Überleben der Partner erforderlich ist.

2) Die räumliche Beziehung zwischen verschiedenen Arten (Schätzing, 2009; Fritsche, 2016) beschreibt die physische Nähe verschiedener Arten zueinander. Die Endosymbiose beschreibt eine Partnerschaft, bei der ein Organismus in den Organismus des anderen Partners (Wirt) aufgenommen wird (beispielsweise durch Bakterien im Magen-Darm-Trakt des Menschen). Die Endocytobiose beschreibt darüber hinaus eine Partnerschaft, bei der die im Wirt aufgenommene Art sich im Organismus des Wirts weiter fortpflanzt (z. B. Viren). Die Exosymbiose beschreibt eine Beziehung, bei der sich die Partner oberflächlich berühren. Die Ektosymbiose beschreibt eine Beziehung, bei der die beiden Organismen körperlich getrennt voneinander bleiben.

3) Die Art des Nutzens (Schätzing, 2009; Fritsche, 2016) dient als weitere Unterscheidungsform bei Symbiosen. Die Fortpflanzungssymbiose beschreibt dabei, dass mind. ein Partner im Fortpflanzungsprozess durch die andere Art unterstützt wird. Bei der Symbiose zum Schutz vor Feinden profitiert ein Organismus vom Schutz des anderen, was die Chance für das eigene Überleben steigert.

Im Folgenden möchten wir uns jedoch nur auf 1) und 2) konzentrieren, da 3) nur zwei Unterscheidungskategorien aufweist, die darüber hinaus auch nur einen begrenzten Mehrwert für wirtschaftliche Akteure bieten.

Das Konzept der Symbiose lässt sich, ganz im Sinne unserer Ecosystem-Terminologie, ebenfalls auf wirtschaftliche Akteure übertragen. Dies gilt vor allem für 1) Grad der Abhängigkeit sowie 2) räumliche Beziehung. Der Grad der Abhängigkeit könnte durchaus als Mass für die einseitige oder beidseitige Abhängigkeit von wirtschaftlichen Akteuren voneinander genutzt werden. Die räumliche Nähe von Partnern könnte darüber hinaus als Mass für die organisationale Integration der einzelnen Partner dienen, d. h. sie beschreibt, wie stark die Organisationsstrukturen der beiden Partner bereits miteinander verwoben sind. Die nachfolgende Tabelle überträgt das Konzept der Symbiose auf wirtschaftliche Akteure und gibt zum besseren Verständnis Beispiele für die einzelnen Symbiosearten.  

Grad der Abhängigkeit
Tabelle 1: Unterscheidung organisationaler Symbiosen nach Abhängigkeit
Anmerkung: Die Endocytobiose wurde in diesem Beispiel nicht übernommen, da eine starke Ähnlichkeit zur Endosymbiose besteht und sie aus Sicht wirtschaftlicher Akteure wenig Mehrwert bietet.

Betrachtet man beispielsweise Mobilität aus Ecosystemperspektive, so lassen sich bei Flugreisen Symbiosen der Art Protokooperation erkennen. Airlines bieten ihren Fluggästen immer häufiger immer weitreichendere Unterhaltungsangebote, dazu zählen beispielsweise Filme, Serien, oder aber Magazine und Zeitschriften, die vor dem Reiseantritt heruntergeladen werden können. Jedoch besteht zwischen Fluglinien und Zeitungshäusern keine hohe Abhängigkeit, beide sind ohne einander lebensfähig. Eine engere Beziehung weisen beispielsweise Unternehmen auf, welche spezifische Bauteile einer anderen Organisation im eigenen Produkt verbauen. Diese Art der Symbiose besteht unter anderem zwischen Apple und Samsung: in Apples iPhones werden Samsung Displays verbaut, dies erfordert eine engere Zusammenarbeit in der Entwicklungs-, Produktions- sowie der Supportphase, da sich beide Seiten auf die technologischen Gegebenheiten einigen müssen. Jedoch lässt sich diese Symbiose (trotz möglichen finanziellen Aufwands) wieder lösen. Schliesslich finden sich bei der Eusymbiose Unternehmen in Beziehung zueinander, ohne die der jeweils andere nicht mehr existieren könnte. Dies ist beispielsweise im Bereich der Mobilität bei Autofirmen und Tankstellen der Fall: nur wenn eine flächendeckende Infrastruktur mit Tankstellen zur Versorgung der Automobile vorhanden ist, ist das Auto als Produkt für den Endkunden attraktiv. Umgekehrt sind Tankstellen in grossem Massstab obsolet, wenn keine Automobile vorhanden sind, welche auf diese angewiesen wären. 

Räumliche Beziehung
Tabelle 2: Unterscheidung organisationaler Symbiosen nach räumlicher Beziehung (Organisation)

Betrachtet man die räumliche Beziehung, so lassen sich zahlreiche Beispiele nennen, bei denen etablierte Unternehmen andere Unternehmen aufkaufen und integrieren, um deren Schlüsselkompetenzen zu nutzen und für das eigentliche Kernangebot zugänglich zu machen. Dies trifft beispielsweise auf Apple zu, welches die Sparte Smartphone-Modems von Intel abgekauft hat, um bei der Entwicklung von iPhone-Modellen eben auf diese Technologie zurückgreifen zu können (Endosymbiose). Bei der Exosymbiose, also der engen Kooperation, lassen sich beispielsweise viele Inkubationshäuser oder Grosskonzerne mit Bereichen zur Begleitung von Startups nennen. Hier wird ein Umfeld geschaffen, dass es jungen Startups ermöglichen soll, zu wachsen. Diese werden durch Office-Räume, Coaching-Programme oder Finanzierungsmöglichkeiten unterstützt – dabei behalten jedoch beide Organisationen oftmals voneinander unabhängige Strukturen. Bei der Ektosymbiose bleiben zwei Organisation organisational getrennt voneinander, jedoch können die Produkte oftmals komplementär zueinander genutzt werden. Dies wird speziell durch neue Technologien, beispielsweise APIs, DLTs bzw. durch die Architektur des Internets unterstützt. Beispielsweise sind Amazon und Google organisational vollständig unabhängig voneinander, jedoch können Produkte wie beispielsweise Software-as-a-Service(SaaS)-Lösungen (Google Cloud, Amazon Webservices) gut komplementär im gleichen Kontext genutzt werden.

Es zeigt sich, dass der Blick über den Tellerrand lohnend sein kann. Verschiedene Konzepte wie das der Symbiose können durchaus auch im wirtschaftlichen Kontext einen Mehrwert bieten und Analyseraster darstellen, mit denen die Beziehungen von einzelnen wirtschaftlichen Akteuren untersucht werden können. Das Konzept stellt dabei bisher einen eher explorativen Ansatz dar, der zwar gewisse Vorzüge hinsichtlich der Analyse von Kooperationen einzelner Akteure mit sich bringt, jedoch noch weiterentwickelt werden muss, um einen Mehrwert bei der Analyse wirtschaftlicher Beziehungen zu bringen. Darüber hinaus stellt der Ansatz aber dennoch eine Möglichkeit dar, die Ecosystemdiskussion sinnvoll zu ergänzen und zum Verständnis der Bildung und Entwicklung von Ecosystemen beizutragen, da gerade Ecosysteme sich oftmals durch äusserst komplexe Strukturen und Wertschöpfungsbeziehungen auszeichnen. Da es sich bei Business Ecosystemen um sich dynamisch entwickelnde Netzwerkstrukturen mit verschiedenen Akteuren (aus verschiedenen Industrien) handelt, die gemeinsam Wert schaffen und auf alle Teilnehmer aufteilen, könnte die Symbiose, die für genau dieses Prinzip der beidseitig gewinnbringenden Kooperation in der Natur steht neue Einsichten in die Mechanismen der Ecosystemkooperation ermöglichen.


Ko-Autoren

Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Marc Burkhalter sowie Prof. Dr. Reinhard Jung vom Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen (IWI-HSG) und spiegelt die Ergebnisse eines Papers der Autoren wieder, das von Christian Betz im Rahmen der AMCIS 2019 in Cancún, Mexiko vorgestellt wurde.


Quellen

Adner, R., & Kapoor, R. (2010). Value Creation In Innovation Ecosystems: How The Structure Of Technological Interdependence Affects Firm Performance In New Technology Generations. Strategic Management Journal, 31(3), 306–333. https://doi.org/10.1002/smj.821

Adner, R., & Kapoor, R. (2016). Innovation ecosystems and the pace of substitution: Re-examining technology S-curves. Strategic Management Journal, 37(4), 625–648. Retrieved from http://10.0.3.234/smj.2363

Betz, C., Burkhalter, M. & Jung, R. Prerequisites for Value Co-Creation in Business Ecosystems, Proceedings of AMCIS 2019

Christensen, C.; The Innovator’s Dilemma. When New Technologies Cause Great Firms to Fail. Harvard Business School Press. Boston. 1997

Fritsche, O., Mikrobiologie, Kompaktwissen Biologie. Springer-Verlag, 2016, ISBN 978-3-662-49729-6 (S.230ff)

Iansiti, M., & Levien, R. (2004). Strategy as Ecology. Harvard Business Review, 82(3), 1–11.

Jacobides, M. G., Cennamo, C., & Gawer, A. (2018). Towards a theory of ecosystems. Strategic Management Journal, 39(8), 2255–2276. https://doi.org/10.1002/smj.2904

Moore, J. F. (1993). Predators And Prey: A New Ecology of Competition. Harvard Business Review, 71(3), 75–86.

Parkhe, A. 1991. Interfirm diversity, organizational learning, and longevity in global strategic alliances. Journal of International Business Studies, 22: 579-601

Schätzing, F., Nachrichten aus einem unbekannten Universum: Eine Zeitreise durch die Meere, Kiepenheuer & Witsch, 2009 ISBN 97833462300505

Christian Betz

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