Core Banking Radar – «Von Modularbank zu Tuum – ein Kernbankensystem nicht nur für Banken»
Der Core Banking Radar analysiert seit 2017 in regelmässigen Abständen die gängigsten sowie neu aufkommende Kernbankensysteme in der Schweiz mit einem umfangreichen Beurteilungsmodell. Die neueste Publikation beleuchtet das estnische Neo-System Tuum und zeigt Erfolgsfaktoren für dessen Nutzung auf. Der Core Banking Radar ist ein Gemeinschaftsprojekt von Swisscom und dem Business Engineering Institute St. Gallen.
Dies ist ein Auszug aus dem ausführlichen Artikel.
Tuum, das vor Kurzem noch Modularbank hiess, wurde vor knapp 3 Jahren von Bankexpert*innen und IT-Fachpersonen in Estland gegründet, welche sich schon jahrelang gemeinsam mit Kernbankensystemen beschäftigt hatten. Tuum kombiniert den API-First-Ansatz mit dem Ziel, nicht nur den Kern, sondern möglichst komplette Bankfunktionalitäten anzubieten. Insbesondere ihre Finanzierungsfunktionalitäten werden neben Banken auch von anderen Industrien eingesetzt.
Wie der ursprüngliche Name andeutet, bietet Tuum lose gekoppelte Module von Funktionalitäten, welche je nach Bedarf der Kund*innen zusammengestellt oder auch einzeln eingesetzt werden können (z. B. Zahlungsmodul, Kartenverwaltung, Credit Suite, etc.).
Der Funktionsumfang von Tuum erstreckt sich 2021 über die Bereiche Kontoverwaltung, Zahlungsverkehr, Depositen und Finanzierung für das Privat- wie auch das Firmenkundengeschäft.
Im Bereich Zahlen stellt Tuum unterschiedliche Arten von Zahlungsverfahren (Karten, SEPA, SWIFT) zur Verfügung. Daneben unterstützt es e-Wallets sowie den Datenträgeraustausch zur sicheren Übermittlung von Zahlungsdaten zwischen Unternehmen und Banken direkt aus dem ERP.
Dank ihrer Embedded-Finance-Anwendungsfälle, bei welchen Finanztools bzw. -services von Nicht-Finanzanbietern genutzt werden, positioniert sich Tuum auch in anderen Industrien. Tuums Banking-Core-Modul verarbeitet beispielsweise die Transaktionen der 700’000 registrierten Loyalitätskartennutzer einer nordischen Einzelhandelsgruppe und erlaubt die Zuweisung eines Überziehungslimits, welches Kund*innen Anfang Monat per Rechnung zurückzahlen können. Soeben hat Tuum den Vertrag mit einem in Genf ansässigen Zahlungsinstitut unterschrieben, welches über Tuums Banking Core, Zahlungsmodul, Banking Circle und Currency Cloud Connector grenzüberschreitende Geschäfte mit Mehrwährungsgeldbörsen, Zahlungen und Devisen unterstützen möchte.
Tuum, das sowohl auf der Cloud als auch vor Ort installiert nutzbar ist, versucht trotz Modularisierung den Integrationsbedarf gering zu halten, indem es eine grosse Abdeckung der Bankfunktionalitäten anstrebt. Zudem will Tuum ihre Funktionen möglichst all ihren Kund*innen in unterschiedlichen Ländern anbieten können. Um diesen Spagat zu schaffen, braucht Tuum einen hohen Standardisierungsgrad, das heisst, die Produkte und Prozesse sind zu einem gewissen Grad vorgegeben, dennoch können Kund*innen basierend auf Produktvorlagen und durch deren Kombination selbst neue Produkte erstellen (ähnlich vielgenutzter SaaS-Produkte wie Salesforce oder SAP). Standardisierung macht zwar eine Individualisierung komplizierter, dafür reduziert sie die Komplexität hinsichtlich benötigter IT-Entwicklerkenntnisse innerhalb der Bank.
Erfolgsfaktoren
Erfolgsfaktoren für den Einsatz eines Neo-Kernbankensystems wie Tuum bei einer Bank sind insbesondere:
- Einbindung und Offenheit des aktuellen Systemherstellers
Das Anbinden einzelner Module setzt die Bereitstellung offener Schnittstellen auf Systemseite der Bank voraus, wozu der bestehende Systemhersteller nicht immer motiviert sein dürfte, da Einbussen in den Lizenzeinnahmen entstehen könnten. - Rollengerechte Frontends
Für Kund*innen, Kundenberater*innen und Expert*innen ist ein jeweils spezifisches Frontend zu integrieren, häufig möchten Banken ihr bestehendes Frontend weiter nutzen. - Kultureller Wandel
Bereitschaft der Mitarbeitenden fördern, sich im internationalen Kontext mit agilen Projekten und laufenden Projektanpassungen auseinanderzusetzen. - Unterscheidung punkto Standardisierbarkeit
Differenzierung zwischen Elementen, welche Tuums Standard folgen und Elementen, welche für die Bank marktdifferenzierend und nicht weiter standardisierbar sind (siehe auch nächster Punkt zu Helvetisierung). Um die Standards von Tuum möglichst hoch und damit das System effizient zu halten, sind die Prozesse anderer Produkte im Zuge ihrer Einführung möglichst an diejenigen von Tuum anzupassen. Dazu ist das Verständnis der Handhabung von Standards bei Mitarbeitenden zu fördern und durchzusetzen. - Möglichst minimale Helvetisierung
In der Schweiz notwendige Produkte wie QR Bill oder AHV-Abrechnung durch Umsysteme integrieren, ansonsten die gegebenen Vorlagen möglichst nicht verbiegen und Helvetisierung vermeiden, um den Integrationsbedarf gering zu halten.
Universalbanken, die sich für Tuum entscheiden, werden eine modulare Strategie[1] verfolgen und erst einmal einzelne oder mehrere Module wie beispielsweise Karten- oder Finanzierungsmodule über Open APIs an ihr bestehendes System anbinden, um Quick Wins in Form einer schnellen Time to Market von innovativen Produkten zu generieren. Sind die Erfahrungen dabei positiv, ist je nach Tuums kontinuierlicher Einführung neuer Funktionalitäten die Ergänzung weiterer Tuum-Module bis hin zur Buchungs-Engine denkbar.
Potenzial sehen wir tatsächlich auch bei Nicht-Banken, welche Finanzfunktionalitäten (z. B. Ratenzahlung) selbst anbieten möchten, da Tuum unkompliziert mit einer intuitiven Benutzeroberfläche daherkommt.
Aktuell und vielleicht auch in Zukunft sind Bedürfnisse von Schweizer Banken beim Einsatz von Neo-Kernbankensystemen insbesondere auch im Bereich Anlegen durch Umsysteme zu lösen. Die Zeit wird zeigen, ob Tuum im Wealth Management eine für Schweizer Banken spannende Abdeckung anbieten wird, oder ob die Prioritäten anders gesetzt werden.
[1] Mehr zu den Strategien «Core», «Front-to-back» und «Modular» könnt Ihr in der vorletzten Ausgabe des Kernbankradars «Zufriedenheit der Banken mit ihrem Kernbankensystem: Ein Spannungsfeld?» nachlesen
Bereits erschienene Artikel
- «Mambu – ein Kernbankensystemhersteller neuer Generation setzt auf SaaS» (erschienen 12. Januar 2021)
- «Zufriedenheit der Banken mit ihrem Kernbankensystem: Ein Spannungsfeld?» (erschienen 10. Juli 2020)
- SolitX: Smart Financial Contracts als neuer Ansatz der Systemunterstützung für Banken (erschienen 14. November 2019)
- «One Size doesn’t fit all»: Kernbankenhersteller setzen verstärkt auf digitale Ecosysteme (erschienen 30. Mai 2019)
- Leveris: Unterstützung der Bank im Mittelpunkt des digitalen Ökosystems (erschienen 23. August 2018)
- nd offen für Innovationen von aussen (erschienen 15. März 2018)
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