Forschungsbereich Business Ecosystems

Verstehen und Anwenden von Ecosystems: Zwei Perspektiven für Organisationen

Was Sie in diesem Blogbeitrag erwartet

Im Zusammenhang mit meiner Forschung im Bereich der Ecosystems im Management (siehe hierzu u.a. meinen letzten Blogbeitrag), komme ich auch immer wieder in Kontakt mit Organisationen, welche das Konzept der Ecosystems für sich nutzen. In der Rückschau stelle ich hier insbesondere zwei Perspektiven auf Ecosystems fest, eine «Unternehmenszentrierte» und eine «Kundenzentrierte». In dem hier folgenden Beitrag möchte ich einen kurzen Einblick in diese beiden Perspektiven geben. Zuerst werde ich das Thema der Ecosystems kurz einführen. Im Anschluss werde ich die beiden Perspektiven näher erläutern. Abschliessend gebe ich einen Hinweis darauf, wie Organisationen eine Kombination der beiden Perspektiven im Rahmen einer strategischen Analyse nutzen können.

Ein Blick auf Ecosystems

Dass Organisationen nicht allein agieren, um Wert zu schaffen, ist für sich genommen nichts neues. Auch das Erstellen eines Automobils durch einen grossen OEM geschieht, indem der OEM die Angebote von verschiedenen weiteren Anbietern kombiniert. Dennoch handelt es sich bei einem solchen Wertschöpfungskonstrukt wohl eher um das klassische Beispiel einer «Supply-Chain», bei der eine Organisation vorgibt, was sie an Modulen für ein Gesamtangebot benötigt. Am Ende steht das Produkt, hier das Auto, welches den Kunden angeboten wird. Ein anderes Beispiel eines Wertschöpfungskonstruktes manifestiert sich in der Struktur eines Marktplatzes. Hierbei bieten Anbieter ihre einzelnen Produkte für Endkunden an – in manchen Fällen organisiert auf z.B. einem zentralen, ggf. digitalen, Marktplatz. Die einzelnen Produktanbieter stehen hierbei, bei vergleichbarem Produktangebot, in einem Konkurrenzverhältnis. Der Endkunde entscheidet, ob er Produkte losgelöst voneinander nutzt oder Angebote kombiniert. Ein Beispiel bietet hier ein physischer Marktplatz, der Wochenmarkt. Bei den unterschiedlichen Händlern können Kunden unterschiedliche Produkte beziehen – ob sie diese z.B. zu einer Mahlzeit kombinieren, entscheidet jeder Kunde selbst.

Aufbauend auf dieser Beschreibung von «Hierarchie» und «Markt» beschreiben Jacobides et al. (2018) das Konstrukt von Ecosystems nun als dritte Form der möglichen Wertschöpfungskonstrukte. Hierbei bezieht der Kunde einen Service von einem fokalen Unternehmen oder einzelne Module von Partnern dieses Unternehmens im Ecosystem (Jacobides et al., 2018). Das Ecosystem beschreibt entsprechend die Struktur unterschiedlicher Organisationen, die notwendig sind, um ein gemeinsames Wertversprechen umzusetzen. Dieses Wertversprechen unterscheidet sich dann auch häufig von den Produkten, wie sie in «klassischen» Wertschöpfungskonstrukten angeboten werden. Es findet eine Refokussierung vom einzelnen Produkt, z.B. Automobil, zu dem Ziel der breiteren und tieferen Erfüllung von Kundenreisen statt. Beispielsweise decken Helvetia mit ihrem «Home-Ecosystem» (Schweiz) (vgl. Seehofer & Lechner, 2023) aber auch «myky» (Schweiz) (vgl. Maicher et al., 2023) eine ganze Bandbreite an Ansatzpunkten in den Kundenreisen im Bereich Wohnen ab. Hierzu nutzen sie eigene Angebote sowie die Kombination mit Partnern für ein gemeinsames Serviceangebot für die Endkunden. Im Bereich Gesundheit nutzt die Well Gesundheit AG eine ganze Bandbreite an Partnern, welche über eine zentrale Plattform an die Endnutzer bereitgestellt werden, um den Zugang zur Gesundheit für jedermann zu vereinfachen (vgl. Well Gesundheit AG, 2023).

Hauptsächlich unterscheiden sich Ecosystems von anderen Wertschöpfungskonstrukten durch das Vorhandensein von spezifischen Komplementaritäten zwischen den Akteuren und die Notwendigkeit für die Alignierung der beteiligten Akteure zu einem gemeinsamen Ziel durch einen Orchestrator (siehe hierzu detaillierter Jacobides et al., 2018; Lingens et al., 2023; Vetterling & Baumöl, 2023).

Der Hintergrund für die Entstehung von Ecosystems liegt meiner Meinung nach in unterschiedlichen Einflussfaktoren begründet. Zwei Essenzielle sind aus meiner Perspektive die Digitalisierung und der technische Fortschritt, welche eine effizientere Verbindung einer grossen Anzahl an Akteuren ermöglicht und die Modularisierung von Angeboten vorantreibt sowie die gestiegenen Anforderungen von Endkunden an Services.

Im Rahmen der Digitalisierung wird es möglich, eine grosse Anzahl an Akteuren effizient, z.B. durch standardisierte technische Schnittstellen (Application Programming Interfaces), zu vernetzen. Weiter ermöglicht es der technische Fortschritt z.B. durch neue intelligente Systeme, eine grosse Anzahl an Daten auszuwerten. Dies stellt einen wichtigen Baustein für Ökosysteme dar (Vetterling & Baumöl, n.d.).

Zusätzlich wird eine weiter fortschreitende Modularisierung von Angeboten ermöglicht. Diese wiederrum eröffnet Organisationen neue Chancen, da sie nicht eine Gesamtlösung an der Kundenschnittstelle präsentieren müssen, sondern einzelne Module zu einer Gesamtlösung beisteuern können.

Weiter fordern Endkunden immer komplexere Lösungen, welche durch eine einzelne Organisation nur schwer zu erstellen sind. Wir als Kunden sind es u.a. gewöhnt, dass wir an einer Stelle Angebote aus verschiedenen Bereichen kombiniert nutzen können. Ein Beispiel hierzu findet sich gewisserweise auf unseren Smartphones. Betrachtet man die Applikationen, welche man auf seinem Smartphone hat, so kommen diese vermutlich aus den unterschiedlichsten Bereichen (Banking, Messaging, Freizeit, etc.) und liegen dennoch an einer Stelle “griffbereit” vor. Ähnliches wünschen wir uns dann doch auch vermehrt von weiteren Serviceangeboten – z.B. im Bereich Wohnen, wäre es doch klasse, wenn man diverse Services, von dem Interesse an einer Immobilie über die Finanzierung bis hin zur Verwaltung, an einer Stelle erledigen könnte. Dies ist beispielsweise Grundlage für das Home-Ecosystem von Helvetia (Seehofer & Lechner, 2023).

Zur weiteren Betrachtung wollen wir nun auf nur noch eines der drei genannten Kontstrukte zur Wertschöpfung (Hierarchie, Markt, Ecosystem) fokussieren – den Ecosystems. Diese wollen wir in Anlehnung an Adner (2017) als Gruppe von Akteuren betrachten, welche zur Erzeugung eines gemeinschaftlichen Wertversprechens, ausgedrückt durch das Ziel des Erfüllens von komplexen Kundenanfragen, und durch das Abdecken von Positionen einer Kundenreise, weiter definiert werden können.

Zwei Perspektiven zum Nutzen dieses Konstruktes

In meiner Arbeit mit unterschiedlichen Organisationen, welche sich mit dem Thema «Ecosystems» strategisch beschäftigen, haben sich zwei Perspektiven herauskristallisiert. Im Folgenden möchte ich auf eine «Unternehmenszentrierte-» und eine «Kundenzentrierte-» Perspektive eingehen.

Unternehmenszentrierte Perspektive

Betrachten wir Ecosystems, so könnte auch eine Analyse von einzelnen Organisationen und deren umgebenden Akteuren, die für die Organisation zur Erreichung ihrer Value Proposition notwendig sind, eine Perspektive im Zusammenhang mit Ecosystems sein. Im Mittelpunkt steht hierbei die einzelne Organisation bzw. die Mission, welche die Organisation erfüllen möchte. Dies ist sozusagen das “Ziel”, welches aus den einzelnen Modulen besteht, die unterschiedliche Akteure bereitstellen. Zu der Erfüllung dieses Ziels tragen nun unterschiedliche Akteure bei. Hier können beispielsweise auch Universitäten oder andere Ausbildungseinrichtungen eine wichtige Rolle einnehmen, da sie z.B. durch die Ausbildung von Talenten unterstützen.

Ob es sich bei dem analysierten Konstrukt dann wirklich um ein “klassisches” Ecosystem handelt, ist dann noch zu analysieren (hierzu müssten u.a. die Komplementaritäten analysiert werden). Ein “Denkrahmen” i.S.v. “wir als Organisation stehen in einem Zusammenhang mit den Organisationen um uns herum”, hat sich jedoch häufig als hilfreich erwiesen. Konkret kann das Einnehmen einer solchen Perspektive dabei unterstützen zu verstehen, wie externe Akteure zur Wertschöpfung, i.e. Erfüllung der eigenen Mission, beitragen und wie die Organisation sich innerhalb “ihres Ecosystems” positionieren kann. Eine tiefere Einsicht in die Synergien und Abhängigkeiten von externen Akteuren wird möglich. Tiefergreifend könnten die einzelnen Akteure dann konkreter bewertet werden, z.B. aus einer betriebswirtschaftlichen Brille oder durch eine konkretere Risikoeinschätzung.

Abbildung 1: Unternehmenszentriere Perspektive

Kundenzentrierte Perspektive

Nehmen wir einmal an, wir sind die Pfefferminzia AG und wollen nun analysieren, wie wir die Kundenzentrierte Perspektive eines Ecosystems zur strategischen Analyse nutzen können.

Bei der Kundenzentrierten Perspektive, wird die Kundenreise ins Zentrum gestellt, welche als Gravitationspunkt für die Analyse im Rahmen eines Ecosystems dienen soll – die vollständigere Abdeckung einer solchen wurde ja eingangs bereits als Hauptziel von Ecosystems aufgebracht. Die zentrale Kundenreise kann in unterschiedlichen Bereichen identifiziert werden, z.B. Wohnen und Freizeit. Eine erste Überlegung sollte sein, wie die Kundenreise von Kunde X ausgestaltet ist. Anschliessend bietet es sich an zu analysieren, welche Angebote der Kunde X im Zusammenhang mit der Erfüllung der Kundenreise bereits von welchen Anbietern nutzt. Es folgt eine Analyse davon, was es für die Erstellung der einzelnen Module, i.e., Angebote, an Fähigkeiten benötigt. Hieraus abgeleitet kann die Pfefferminzia AG nun eine Analyse in Bezug auf ihre eigenen Fähigkeiten und das mögliche Anbieten von Modulen in diesem Ecosystem tätigen. Sollte es sich um ein Vorhaben zum Aufbau eines neuen Ecosystems handeln – basierend auf der Grundannahme, dass die Kundenreise noch nicht durch ein anderes Wertschöpfungskonstrukt, nur unzureichend durch ein anderes Wertschöpfungskonstrukt oder aber, weil trotz vorhandener Konkurrenz, der Markt als gross genug eingeschätzt wird – ist zu entscheiden, ob es z.B. noch eine digitale Plattform als Governancekonstrukt benötigt und wie sowie durch wen diese aufgebaut und orchestriert werden sollte.

Abbildung 2: Kundenzentrierte Perspektive
Kombination der beiden Perspektiven

Letztlich lassen sich die beiden Perspektiven dann auch noch kombinieren. Die Pfefferminzia AG könnte so evaluieren, welche Verbindungen zu Akteuren sie zur Ermöglichung ihrer eigenen Mission benötigt sowie welche Rolle sie im Rahmen der Kundenreisen der Endkunden spielt. Hieraus abgeleitet könnte sie dann eine strategische Roadmap ableiten – z.B. je nachdem, ob Sie die Position halten möchte oder ob «White-Spots» in der Kundenreise identifiziert wurden, die gefüllt werden sollen.

Weiterführende Gedanken

Ecosystems werden, wenn auch aktuell weniger als schon einmal, von dem ein oder anderen als «Allheilsbringer» für Organisationen beschrieben. Manchmal bekommt man den Eindruck, alles müsse “Ecosystem” sein…ich persönlich halte recht wenig davon. Ich teile die eingangs beschriebene Einschätzung von Jacobides et al. (2018), dass Ecosystems ein weiteres Konstrukt, neben den bereits Bekannten, zur Wertschöpfung darstellen.

Sollte man sich als Organisation entscheiden, sich näher mit Ecosystems zu beschäftigen, können die beiden hier aufgeführten Perspektiven vielleicht einen hilfreichen Startpunkt bieten.

Mit den hier aufgebrachten Gedanken seien jedoch auch einige Limitationen verbunden:

Zuerst handelt es sich um Beobachtungen, welche ich im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit gemacht habe. Es ist (noch) kein wissenschaftlich erprobtes Konstrukt zur Analyse von Ecosystems.

Weiter fussen meine Gedanken auf Beobachtungen im B2C-Umfeld. Eine weitergehende Analyse im Zusammenhang mit B2B hat bisher nicht stattgefunden und mag andere Gedankengänge formen.

Disclaimer

Zur Erstellung der Grafiken wurde Chat-GPT-4 genutzt.


Bibliography

Adner, R. (2017). Ecosystem as structure: an actionable construct for strategy. Journal of Management, 43(1), 39. https://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&db=edsinc&AN=edsinc.A481211770&site=eds-live&scope=site

Jacobides, M. G., Cennamo, C., & Gawer, A. (2018). Towards a theory of ecosystems. Strategic Management Journal (John Wiley \& Sons, Inc.), 39(8), 2255–2276. https://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&db=bth&AN=130771714&site=ehost-live

Lingens, B., Seeholzer, V., & Gassmann, O. (2023). Journey to the Big Bang : How firms define new value propositions in emerging ecosystems. Journal of Engineering and Technology Management, 69(July), 101762. https://doi.org/10.1016/j.jengtecman.2023.101762

Maicher, L., Lenoci, T., & Vetterling, D. (2023). Controlling-Erkenntnisse beim Aufbau eines Business Ecosystems. Controlling – Zeitschrift Für Erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung, 05, 33–38.

Seehofer, T. M., & Lechner, C. (2023). EVOLUTION OF THE “ HOME ” ECOSYSTEM The Case of Helvetia. In The Case Centre. University of St. Gallen. https://www.alexandria.unisg.ch/handle/20.500.14171/116354

Vetterling, D., & Baumöl, U. (n.d.). Networked business design in the context of innovative technologies: Digital transformation in financial business ecosystems. Journal of Financial Transformation – Capco Institute.

Vetterling, D., & Baumöl, U. (2023). Ecosystems als Quelle kundenzentrierter Wertschöpfung – Konzepte und Steuerungspotenzial. Controlling – Zeitrschrift Für Erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung, 35(5), 4–11.

Well Gesundheit AG. (2023). Über uns. Über Uns.

Dennis Vetterling

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