Wie positioniere ich mich in einem Ecosystem?
Am Anfang jeder Kaufentscheidung steht ein Bedürfnis. Solange mein Bedürfnis befriedigt, mein Problem gelöst wird, spielt das einzelne Produkt für mich als Kunde dabei gar keine so wichtige Rolle. Und je einfacher ich ein Problem lösen kann, je weniger Zeit und Energie ich in die Problemlösung investieren muss, desto besser. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Kundenbedürfnisse heute immer mehr durch integrierte Services befriedigt werden, die durch mehrere Unternehmen gemeinsam bereitgestellt werden und ein Bedürfnis viel umfassender abdecken, als ein Unternehmen dies könnte. Dass eine branchenübergreifende Kollaboration zwischen verschiedenen Unternehmen überhaupt möglich ist, ist eine Konsequenz der Digitalisierung.
Digitalisierung und Ecosystems
Veranschaulichen lässt sich der Effekt der Digitalisierung unter anderem am Beispiel Amazon[1]. Zunächst digitalisierte Amazon seinen Vertrieb und bot Produkte über das Internet an. Später digitalisierte es auch Inhalte, die zuvor an eine physische Form gebunden waren, wie zum Beispiel Bücher und CDs, die nun auch digital konsumiert werden konnten. Es nutzte Informationstechnologie also zur Optimierung bestehender Wertschöpfungsstrukturen. Schon durch diesen Schritt allein lassen sich Kooperationen realisieren, wie z. B. der Amazon Marketplace. In den nächsten Entwicklungsstufen wurde die Informationstechnologie dann dazu verwendet, völlig neue Wertschöpfungsstrukturen zu generieren. Dazu zählen bspw. die von Amazon angebotenen Cloud Services, aber auch die Finanzierung der Händler, die auf Amazon ihre Produkte anbieten. Durch die ihm vorliegenden Transaktionsdaten kann Amazon die Kreditwürdigkeit seiner Händler sehr gut abschätzen. Allein im Jahr 2017 hat Amazon im Segment der kleineren Firmenkredite zwischen 1.000 $ bis maximal 750.000 $ Kredite mit einem Volumen von über 1. Mrd. Dollar 2017 ausgezahlt und ist damit zu einem bedeutenden Wettbewerber im Bereich der Firmenkredite geworden.[2]
Wie dieses Beispiel zeigt, basiert der Erfolg von Amazon nicht nur auf der Digitalisierung der Kundenschnittstelle. Diese ist heute zwar nach wie vor eine wichtige Voraussetzung, um potenziell mehr Kunden zu erreichen bzw. den Kontakt zu bestehenden Kunden nicht zu verlieren, aber schon lange kein Wettbewerbsvorteil mehr. Entscheidend ist vielmehr, neue Geschäftsmöglichkeiten zu entdecken und zu nutzen, die durch die Digitalisierung ermöglicht werden – das bedeutet vor allem den Wechsel zu multilateralen Geschäftsmodellen. Gemeint ist damit, dass ein Unternehmen seine Services in einem oder mehreren verschiedenen Netzwerken und auch in verschiedenen Kontexten platziert – eine Versicherung könnte ihre Produkte zum Beispiel nicht nur über die eigene Website vertreiben, sondern sie im Sinne von Embedded Finance in Customer Journeys einbetten, in denen sie benötigt werden, wie z. B. beim Ausleihen eines Rollers oder Fahrrads mit einem Pay-Per-Use-Konzept oder beim Kauf hochwertiger Konsumgüter online oder im Shop. Gleichzeitig könnte sie ihre Produkte auch über Vergleichsportale anbieten. So können über die Netzwerke – ggfs. mit den gleichen Services – deutlich mehr Kunden erreicht werden und auch durch die Kombination verschiedener Produkte und Services verschiedener Unternehmen integrierte Lösungen zur Verfügung gestellt werden. Dem Kunden kann so ein viel innovativeres und umfassenderes Wertversprechen geboten werden, auch wenn das Angebot der einzelnen beteiligten Unternehmen sich im Grunde nicht ändert.
Wesentliche Herausforderungen von Unternehmen können durch die Erschliessung von Ecosystems adressiert werden. Gestiegene Kundenanforderungen können durch umfassendere und innovativere Lösungen befriedigt werden, wobei der Innovationsgrad nicht allein durch die Bündelung unterschiedlicher Services, sondern auch durch die Analyse von Transaktionsdaten und folglich eine grössere Personalisierung der Angebote entsteht. Vor allem Konsumenten, Provider und Kontributoren profitieren von der durch den Orchestrator bereitgestellten Infrastruktur, ohne eigene technologische Fähigkeiten aufbauen zu müssen, während Orchestratoren durch Kooperationen die Kosten und Risiken der Entwicklung eines Ecosystems teilen können (wie z. B. ursprünglich Daimler & BMW). Darüber hinaus bietet die Beteiligung an Ecosystemen neue Erlösmöglichkeiten durch Zugang zu einer viel breiteren Kundenbasis, eventuell auch durch die Entwicklung innovativer Erlösmodelle. Letztendlich profitiert durch direkte und indirekte Netzwerkeffekte jeder Ecosystemteilnehmer von der Beteiligung aller anderen Partner am Ecosystem.
Wie bedeutsam sind solche Netzwerke bzw. Ecosystems? Schätzungen zufolge verfolgen etwa sieben der zehn grössten Unternehmen weltweit Ecosystem-Ansätze. Darüber hinaus lässt sich in den im S&P 500 gelisteten Unternehmen mit der grössten Wachstumsrate die stärkste Orientierung am Ecosystem-Konzept feststellen.[3] 2025 werden voraussichtlich 30 Prozent des weltweiten Umsatzes in Ecosystems erwirtschaftet[4] und 76 % der Führungskräfte gehen davon aus, dass Ecosystems der Hauptgrund für sich ändernde Geschäftsmodelle sein werden.[5]
Wie entscheidet man nun aber, ob man sich an einem Ecosystem beteiligt oder selbst eines aufbaut und – noch viel herausfordernder – setzt diese Entscheidung dann auch noch erfolgreich in die Tat um? Zwingend notwendig ist es zunächst einmal, ein Verständnis dafür aufzubauen, was ein Ecosystem ausmacht, wie es funktioniert und welche Rollen es in einem Ecosystem gibt. Davon ausgehend kann man dann in einem nächsten Schritt evaluieren, welche konkreten Ecosysteme für das eigene Unternehmen interessant wären und welche Rollen man aufgrund der eigenen Fähigkeiten und denen der Konkurrenz realistischerweise einnehmen kann.
Wir haben an anderer Stelle bereits über die Funktionsweise von Ecosystems und die möglichen Rollen geschrieben. Für alle, die neu in das Thema einsteigen oder sich die Inhalte kurz in Erinnerung rufen möchten, haben wir die wichtigsten Punkte unter den beiden folgenden Reitern zusammengefasst:
[expand title=”Grundlagen von Ecosystems“]Grundsätzlich können Ecosystems als sich dynamisch entwickelnde Wertschöpfungsnetzwerke verschiedenster Teilnehmer mit gemeinsamer organisatorischer und transaktionaler Infrastruktur betrachtet werden. Dabei sind die Akteure autonome, jedoch voneinander abhängig. Ihr Geschäftsmodell dient der gemeinschaftlichen Wertschöpfung mit übergreifendem Ziel. Häufig wird diese gemeinschaftliche Wertschöpfung über eine digitale Plattform orchestriert, welche die Infrastruktur zur Entwicklung und / oder zum Austausch von Leistungen bereitstellt. Eine Plattform kann also nicht mit einem Ecosystem gleichgesetzt werden, auch wenn sie oft ein wichtiges Mittel zur Orchestrierung eines Ecosystems darstellt und oft auch der Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Ecosystems ist, zum Beispiel wenn eine Vergleichsplattform beginnt, sich für weitere Teilnehmer und Services zu öffnen, die zu ihrem Wertversprechen passen. Grundsätzlich lassen sich verschiedene Rollen identifizieren, die ein Unternehmen in einem Ecosystem einnehmen kann.[6][/expand]
[expand title=” Archetypische Rollen im Ecosystem“] Bezugnehmend auf die gemeinschaftliche Wertschöpfung innerhalb eines Ecosystems lassen sich vier archetypische Rollen unterscheiden. Konsumenten/Nutzer nutzen eine Kernleistung, d. h. Ressourcen und Ressourcenbündel in Form von Services und Produkten. Orchestratoren koordinieren Leistungen zwischen Teilnehmern, indem sie die damit verbundenen Werteflüsse steuern und regulieren. Provider stellen Leistungen, d. h. Ressourcen und Ressourcenbündel in Form von Services und Produkten im Ecosystem bereit. Schließlich unterstützen Kontributoren die Konsumenten, Provider und Orchestratoren mit Sub-Leistungen bei der Verwendung, der Bereitstellung sowie der Koordination der Kernleistung.[6]
Das Kernwertversprechen kann man vereinfachend als gemeinsame Vision der Teilnehmer des Ecosystems interpretieren. Es begründet, warum ein Ecosystem existiert. Hierbei kann man grundsätzlich zwischen dem Ziel der Lösung von «Pain» oder der Gewinnung von «Gain» unterscheiden.[7] Beispiele der Lösung von Pain sind die Wal-Mart Vision «To give ordinary folks the chance to buy the same things as rich people». Ein «Gain»-Beispiel ist Walt Disney mit «To make people happy».[8][/expand]
Bestehende Positionierung des eigenen Unternehmens in existierenden Ecosystems
Um die Relevanz von Ecosystemen für das eigene Unternehmen zu verstehen, ist es zunächst notwendig zu verstehen, welche Arten von Ecosystemen es gibt und ob das eigene Unternehmen bereits in solchen involviert ist. Das CC Ecosystems differenziert Ecosysteme danach, welches Kundenbedürfnis adressiert wird. Im Laufe der Zeit haben wir im Zuge der Arbeit an unserem Ecosystem-Radar folgende zehn Kernbedürfnisse und somit Ecosystembereiche identifiziert: Mobilität, Wohnen, Gesundheit, Freizeit, Beruf, Finanzielle Sorgenfreiheit, Ernährung & Konsum, Service Public, Business Services sowie Produktion.
Mithilfe des Ecosystem Wheels lässt sich visualisieren, in welchen Ecosystembereichen ein Unternehmen in welcher Funktion tätig ist. Darüber hinaus kann es aber auch als Hilfsmittel dienen, um herauszufinden, an welchen Ecosystemen man sich auf Basis der bisherigen Aktivitäten und Fähigkeiten sinnvollerweise beteiligen könnte. In diesem Beispiel haben wir beispielhaft sowohl klassische Aktivitäten der Daimler AG in Ecosystempositionierungen übersetzt als auch einen tatsächliche Ecosystemansatz des Automobilherstellers abgetragen.
Ecosystem Wheel am Bespiel Daimler AG[9]
Historisch hat Daimler in der Rolle des Providers Automobile und LKWs für die Ecosystem-Bereiche «Mobilität» und «Produktion» hergestellt. Im Bereich Lifestyle hat die Daimler AG Sportler und Events als Sponsor finanziell unterstützt, was der Tätigkeit eines Kontributors entspricht.
In den letzten Jahren hat die Daimler AG im Rahmen einer Kooperation mit BMW versucht, sich als Orchestrator im Ecosystem «Mobilität» zu positionieren. Unter dem Namen YOUR NOW wurden verschiedenste Mobilitätslösungen von Mitfahrangeboten über Car-Sharing bis hin zu Parklösungen und Lösungen zum Auftanken von Elektroautos entwickelt. Auch hier steht der Gedanke im Fokus, es dem Kunden so einfach wie möglich zu machen, von einem Ort zum anderen zu gelangen, ohne isolierte Einzellösungen nutzen zu müssen. Momentan ist bei den Autoherstellern allerdings eine Rückbesinnung auf ihr Kerngeschäft zu beobachten[10], was bei allem Hype um das Thema Ecosystems auch eine Erinnerung daran ist, dass Ecosystems neben zum Beispiel der traditionellen vertikal integrierten Produktion oder Supply Chains nur eine mögliche Organisationsform sind. Genauso wie die Rolle des Orchestrators zwar häufig eine sehr lohnenswerte, aber auch eine sehr risikoreiche und schwer auszufüllende Rolle innerhalb eines Ecosystems ist. Anstatt sich auf eine Organisationsform oder – innerhalb eines Ecosystems – auf die Einnahme einer Rolle zu versteifen, sollte man daher jede Möglichkeit im Sinne einer Ecosystem-Portfolio-Rollen-Strategie kritisch auf ihre Vor- und Nachteile hin überprüfen.
Neben dem Ecosystem Wheel hilft auch das Ecosystem Assessment Tool dabei, die eigenen Bedürfnisse und die Gegebenheiten eines Ecosystems miteinander abzugleichen, um abzuschätzen, wie attraktiv die Beteiligung an einem Ecosystem sich tatsächlich darstellt.
Fazit
So komplex das Thema Ecosystems und die Frage nach der eigenen Positionierung auf den ersten Blick auch scheinen, so bietet es doch neue Positionierungsmöglichkeiten für viele Unternehmen. Die Bedeutung der Wertschöpfung in Netzwerken gewinnt immer mehr an Bedeutung. Die Erschliessung der strategischen eigenen Positionierung in Ecosystems lässt sich systematisch mit der passenden Herangehensweise in kleinere, bearbeitbare Schritte unterteilen. Startpunkt sind die Kundenbedürfnisse, deren Impact auf die eigenen Produkte und Services, die aktuelle Position und die angestrebte zukünftige Positionierung des Unternehmens in den verschiedenen Ecosystems. Vermutlich werden sich die meisten Unternehmen eher in der Rolle des Kontributors oder Providers wiederfinden, dies aber in möglicherweise in verschiedenen bereits existierenden Ecosystems. Voraussetzung für ein erfolgreiches Interagieren in Ecosystems ist eine entsprechende Kultur. Eine ausgeprägte Kundenzentrierung, die Fähigkeit zu Kollaboration und Co-Creation sind sicherlich hilfreich.
In meinem nächsten Beitrag werde ich mich damit beschäftigen, wie man in 9 Schritten ein Ecosystem erschliesst.
In der Zwischenzeit wird Dennis Vetterling in zwei Wochen seine Untersuchungsergebnisse zu Erfolgsfaktoren für Ecosytems vorstellen.
[1] Siehe auch meinen Beitrag «Der Weg aus der Digitalisierungsfalle»
[2] https://www.auxmoney.com/de/finanzpilot/amazon-kredit/
[3] https://sloanreview.mit.edu/article/the-myths-and-realities-of-business-ecosystems/
[4] https://www.mckinsey.com/industries/financial-services/our-insights/insurance-beyond-digital-the-rise-of-ecosystems-and-platforms#
[5] https://www.accenture.com/_acnmedia/PDF-77/Accenture-Strategy-Ecosystems-Exec-Summary-May2018-POV.pdf
[6] Burkhalter, M. (2020). Allocentric Business Models – An Allocentric Business Model Ontology for the Orchestration of Value Co-Creation Using the Example of Financial Service Ecosystems (Dissertation no. 4940) [Dissertation]. e-Helvetica. https://www.e-helvetica.nb.admin.ch/api/download/urn%3Anbn%3Ach%3Abel-1496943%3ADis4940.pdf/Dis4940.pdf
[7] https://hbr.org/2015/11/use-storytelling-to-explain-your-companys-purpose
[8] Betz, C., CC Ecosystems 8, Business Engineering Institute St. Gallen.
[9] Entwicklung des Wheels ausgehend von der Struktur von https://ecosystemizer.com/tools/ecosystem-strategy-map/
[10] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/boerse/bmw-daimler-charsharing-101.html
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