Strategie im Zeitalter zunehmender Vernetzung – Eine Bestandsaufnahme (Teil 2)

Am Beispiel von Alibaba, Amazon und Airbnb lässt sich eindrücklich demonstrieren, was für ein Wertschöpfungspotenzial Ecosysteme im Vergleich zu traditionellen, linearen Wertschöpfungsstrukturen besitzen. Nur wie plant und erschliesst man ein Ecosystem? Wie ich im ersten Teil dieses Beitrags erklärt habe, lassen sich traditionelle Strategiekonzepte nicht ohne Weiteres auf Ecosysteme übertragen. Was macht also eine Ecosystemstrategie aus? Nachfolgend stelle ich drei weitere Voraussetzung für die erfolgreiche Gestaltung eines Ecosystems vor, die Teil jeder Diskussion über den Aufbau oder die Teilnahme an einem Ecosystem sein müssen.

Dimensionen einer Ecosystemstrategie (Fortsetzung)

Flexibilität ist ein weiterer strategischer Parameter, den es bei der Erschliessung von Ecosystemen zu berücksichtigen gilt und der vor allem darauf abzielt, nachhaltige bzw. wiederkehrende Interaktionen zu erzeugen [10, 18]. Während sich ein Ecosystem dynamisch entwickelt und nicht jeder Schritt proaktiv geplant und umgesetzt werden kann, neigen viele trotzdem dazu, frühzeitig klassische Ansätze zu verfolgen, u. a. das Konzept des Kunden- bzw. Partner-Lock-ins. Dabei wird die Beziehung möglichst so ausgestaltet, dass andere Akteure schnell in eine Abhängigkeit geraten und sich nicht mehr aus dem Ecosystem wegbewegen wollen. Die Flexibilität, sich aus einem Ecosystem wieder zurückzuziehen, ist aber oftmals nicht nur ein geduldeter Parameter, sondern eine notwendige Voraussetzung zur Teilnahme. Für viele Akteure stellt beispielsweise das sogenannte «Multihoming» [14], das heisst die Teilnahme an mehreren ähnlich ausgeprägten Ecosystemen, eine absolut sinnvolle strategische Positionierung dar, wobei ein «Verbot» zur Teilnahme an anderen Netzwerken eher hinderlich wäre und eine Einstiegshürde darstellen würde, welche das eigene Wachstum behindern würde.

Das Management von Abhängigkeiten ist darüber hinaus ein weiterer zentraler Aspekt einer Ecosystemstrategie. Dies kann zum Beispiel die Identifikation von sogenannten Bottlenecks sein, welche die Existenz eines Ecosystems gefährden. Ron Adner führt hierbei zwei zentrale Überlegungen ein [4], einerseits das Auflösen von Co-Innovationrisiken, andererseits das Auflösen von Adoptionskettenrisiken (Adoption Chain Risks). Co-Innovationsrisiken entstehen, wenn einzelne Akteure zwar neuartige Produkte oder Leistungen entwickeln, welche jedoch auf sogenannte Co-Innovationen, d. h. komplementäre Technologien angewiesen sind. Beispielsweise stellte der iPod zwar für sich genommen eine Sensation dar, er wäre jedoch ohne die Musikmanagementsoftware iTunes bzw. Möglichkeiten zum Erlangen von digitalen Musiktracks (teils durch illegale Peer-2-Peer-Netzwerke) nicht erfolgreich gewesen. Nur die Kombination ermöglichte einen Erfolg, weswegen Apple auch nie der Vorreiter in Sachen digitale Musikwiedergabe war – eine First-Mover Strategie war hier nicht angebracht (vgl. erster tragbarer portabler Musikspieler war der MPMan, 1998 [3]). Apple wartete geduldig auf den richtigen Moment und brachte den iPod, zusammen mit der richtigen Software, erst 3 Jahre nach dem ersten digitalen Musikplayer auf den Markt, als notwendige komplementäre Leistungen bereits verfügbar waren. Wenn die richtigen Innovationen vorhanden sind, muss zusätzlich zu Co-Innovationsrisiken ausserdem sichergestellt werden, dass diese Technologien auch am Markt verfügbar sind und an den richtigen Stellen im Ecosystem verwendet werden [4]. Beispielsweise brachte Michelin vor einigen Jahren die sogenannten PAX-Reifen auf den Markt, welche selbst defekt viele Kilometer ohne Qualitäts- oder Sicherheitsverlust weitergefahren werden konnten, bis sie schliesslich gewechselt wurden. Diese Reifen erforderten jedoch spezielle Maschinen und Fähigkeiten bei den Werkstätten, welche nie grossflächig vorhanden waren. Zwar hatte der PAX-Reifen unwiderlegbare Vorteile, setzte sich jedoch aufgrund der fehlenden Komplementärleistungen am Markt nicht durch.

Das Orchestrieren des Ecosystems wird aus strategischer Sicht als Königsdisziplin angesehen und oftmals gleichgesetzt mit den grossen Tech-Giganten wie Amazon, Google, Facebook, Alibaba, WeChat, etc. Doch das Gleichsetzen von Orchestrierung mit den grossen Plattform-Providern hinkt, denn gerade diese Unternehmen stellen eher atyptische Plattformen dar [16]. Orchestrierung ist aus unserer Sicht mehr als nur das Bereitstellen einer Megaplattform, wie es beispielsweise Amazon oder WeChat tun. Orchestration im Ecosystem lässt sich aus unserer Sicht in zwei Aktivitätsklassen einteilen: operative Orchestrierung sowie dynamische Orchestrierung. Die operativen Aktivitäten beinhalten vor allem die Koordination der einzelnen Teilnehmer bzw. deren Aktivitäten. Das schliesst beispielsweise den Betrieb einer Plattform mit ein, welche die Interaktionen zwischen einzelnen Parteien ermöglicht (beispielsweise Händler und Kunden auf Amazon), oder aber das Bereitstellen von notwendigen Informationen für die Akteure (Content-Bereitstellung in sozialen Medien). Darüber hinaus sind Aktivitäten notwendig, welche den Fortbestand des Netzwerkes sicherstellen, beispielsweise das kontinuierliche Einbinden von möglichen Partnern. Neben den operativen werden ausserdem diverse dynamische Orchestrierungsaktivitäten durchgeführt, welche darauf abzielen, das Netzwerk kontinuierlich weiterzuentwickeln. Das kann zum Beispiel die kontinuierliche Neuentwicklung von Leistungen sein. So hat
Uber in den letzten Jahren viel Zeit und Aufwand in die Erweiterung des Angebots im Ecosystem gelegt. Beispielsweise wurden individuellere Mobilitätsdienstleistungen (Vision: «Move the way you want») integriert oder weitere neue Leistungen in den Bereichen Lebensmittel (Uber Eats) oder Gesundheit (Uber Health) integriert und damit die Vision kontinuierlich angereichert: «Setting the world in motion». All diese Aktivitäten können von einem sogenannten Orchestrator durchgeführt werden, jedoch zeigt der Blick in die Realität, dass reine Orchestratoren, Provider oder Kontributoren oftmals eher ein theoretisches Konstrukt darstellen. Die Orchestratoren Amazon oder Alibaba investieren zum Beispiel stark in sogenannte Kontributor-Leistungen (beispielsweise Logistik), um kritische Leistungen bereitzustellen, die den Erfolg des Ecosytems beeinflussen. Aber auch für Provider kann es eine sinnvolle strategische Option darstellen, in Aktivitäten zu investieren, welche andere Akteure in der Wertschöpfung unterstützen (z. B. indem sie Kunden die Nutzung der Login-Funktion von Facebook oder LinkedIn ermöglichen). Langfristig werden sicherlich nicht-differenzierende Aktivitäten im Ecosystem zunehmend von einer einzelnen Partei (beispielsweise dem Orchestrator) übernommen werden.

Wachstum im Ecosystem durch die «Drehkreuz-Strategie»

Zusammen genommen verfolgen all jene Überlegungen am Ende ein Ziel: das Ecosystem wachsen zu lassen. Birkinshaw führt dafür den Begriff der «Drehkreuz-Strategie» (Turnstile strategy) ein. In den letzten Jahren wurde der Prozess der Strategieformulierung vor allem durch die Industrieanalyse [25] und den Ressourcen-Ansatz (Resource-based view) [7, 31] dominiert; beide Ansätze scheinen aber nicht mehr ausreichend, um die dynamischen Entwicklungen im Ecosystem zu beschreiben. Die Drehkreuz-Strategie beschreibt, wie der kontinuierliche Ressourcen- und Informationsfluss durch mehr und mehr Akteure gesteigert wird. Das Konzept ist nicht unbedingt intuitiv, wurden doch früher Wettbewerbsvorteile und die eigenen Ressourcen geschützt und der Wettbewerb möglichst auf Abstand gehalten – jedoch zeigen immer mehr Ecosystem-Player, dass eine offene Spielart unter Einbezug der direkten Wettbewerber von Vorteil sein kann [10]. Der eigentliche Wettbewerbsvorteil im Ecosystem scheint daher eher die Grösse des Netzwerks und die Positionierung am Ressourcen- und Informationsfluss. Je mehr Teilnehmer, Nutzer, Hersteller und Kontributoren vorhanden sind, desto grösser ist der Wettbewerbsvorteil, der daraus entsteht – denn ein neues Netzwerk heranwachsen zu lassen ist schwierig und aufgrund der hohen Investitionskosten nicht unbedingt umsetzbar. So investiert die Mobilitätsplattform Uber beispielsweise über Jahre hinweg hohe Summen in den Aufbau des Netzwerkes (z. B. Onboarding von Fahrern sowie Neukundengewinnung), ohne selbst bisher schwarze Zahlen zu schreiben. Dabei wettet das Unternehmen (auch mit der Einführung von weiteren Diensten wie Uber Health oder Uber Eats) darauf, dass sie das dominierende Netzwerk orchestrieren werden, was sowohl Providern als auch Usern keinen Anlass gibt, an anderer Stelle nach Mobilitätsleistungen zu suchen.

Die strategischen Überlegungen im Zeitalter der Ecosysteme scheinen sich zu ändern. Coopetition und Kollaboration stehen mehr und mehr im Fokus. Kombiniert man all die oben diskutierten Ansätze, Partnerschaften, Flexibilität, Management von Abhängigkeiten, Orchestrierung und schliesslich den Metaansatz der «Drehkreuz»-Strategie, kommt man zum Schluss, dass der eigene Erfolg vom Erfolg des Netzwerkes bzw. der Akteure im Netzwerk abhängt. Erfolgreich sind solche Organisationen, welche anderen zum Erfolg verhelfen. Oder wie Jack Yun Ma, Gründer und Direktor der Alibaba Gruppe beim World Economic Forum 2015 sagte: “If you want to win in the 21st century, you have to make sure you are making other people more powerful. Empower others. Make sure other people are better than you are. Then you will be successful.”


Quellen

1.          Accenture. 2017. Technology Vision 2017 – Amplify You. Accenture. Retrieved from www.accenture.com

2.          Accenture. 2018. Accenture Open Banking for Businesses Survey 2018.

3.          Ron Adner. 2012. From Walkman to iPod: What Music Tech Teaches Us About Innovation. The Alantic. Retrieved June 17, 2020 from https://www.theatlantic.com/business/archive/2012/03/from-walkman-to-ipod-what-music-tech-teaches-us-about-innovation/253158/

4.          Ron Adner. 2013. The Wide Lens: What Successful Innovators See That Others Miss. Portfolio Penguin, New York, USA.

5.          Ron Adner. 2016. Ecosystem as Structure: An Actionable Construct for Strategy. Journal of Management 43, 1: 39–58. https://doi.org/10.1177/0149206316678451

6.          Rainer Alt. 2018. Electronic Markets on Digitalization. Electronic Markets 28, 4: 397–402. https://doi.org/10.1007/s12525-018-0320-7

7.          Jay Barney. 1991. Firm Resources and Sustained Competitive Advantage. Journal of Management 17, 1: 99–120.

8.          Christian Betz. 2020. Dynamic Value Creation in Business Ecosystems – A Framework for the Analysis of Value Creation and Orchestration (Preliminary Study). St.Gallen, Switzerland.

9.          Christian Betz, Marc Burkhalter, and Reinhard Jung. 2019. Prerequisites for Value Co-Creation in Business Ecosystems. 25th Americas Conference on Information Systems, AMCIS 2019: 1–5.

10.        Julian Birkinshaw. 2019. Ecosystem Businesses Are Changing the Rules of Strategy. Harvard Business Review: 1–8. Retrieved from https://hbr.org/2019/08/ecosystem-businesses-are-changing-the-rules-of-strategy

11.        Marc Burkhalter. 2020. Allocentric Business Models – An Allocentric Business Model Ontology for the Orchestration of Value Co-Creation Using the Example of Financial Service Ecosystems. University of St.Gallen, St.Gallen, Switzerland.

12.        Brian Chesky. 2014. Twitter. Retrieved April 5, 2020 from https://twitter.com/bchesky/status/421856850384932864?lang=de

13.        Deloitte. 2015. Business Ecosystems Come of Age. Deloitte University Press. Retrieved April 5, 2020 from https://www2.deloitte.com/content/dam/insights/us/articles/platform-strategy-new-level-business-trends/DUP_1048-Business-ecosystems-come-of-age_MASTER_FINAL.pdf

14.        Thomas Eisenmann, Geoffrey Parker, and Marshall W. Van Alstyne. 2006. Strategies for Two-Sided Markets. Harvard Business Review 84, 10: 1–11. https://doi.org/10.1007/s00199-006-0114-6

15.        Annabelle Gawer and Michael A. Cusumano. 2014. Industry Platforms and Ecosystem Innovation. Journal of Product Innovation Management 31, 3: 417–433. https://doi.org/10.1111/jpim.12105

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17.        Michael G. Jacobides, Carmelo Cennamo, and Annabelle Gawer. 2018. Towards a Theory of Ecosystems. Strategic Management Journal 39, 8: 2255–2276. https://doi.org/10.1002/smj.2904

18.        Michael G. Jacobides, Arun Sundararajan, and Marshall Van Alstyne. 2019. Platforms and Ecosystems: Enabling the Digital Economy. Briefing Paper World Economic Forum, February. Retrieved from www.weforum.org

19.        Richard Johnson, Susan Moore, Katya Petriwsky, Charmaine Rice, C John, and Dana Sand. 2018. Digital McKinsey: Insights of Winning in Digital Ecosystems. 0718 Hospitality Technologies 3, 1: 5–25.

20.        Henry Mintzberg. 1983. Structure in Fives: Designing Effective Organizations. Prentice Hall, Eaglewood Cliffs, New Jersey, USA.

21.        James F. Moore. 1993. Predators and Prey: A New Ecology of Competition. Harvard Business Review 71, 3: 75–86.

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23.        Mirva Peltoniemi and Elisa Vuori. 2004. Business Ecosystem as the new Approach to Complex Adaptive Business Environments. In Proceedings of eBusiness research forum, 1–15.

24.        Michael Porter. 1985. Competitive Advantage: Creating And Sustaining Superior Performance. Free Press, New York, USA.

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28.        Scrapehero. 2018. How Many Products Does Amazon Sell Worldwide – January 2018. Retrieved April 5, 2020 from https://www.scrapehero.com/how-many-products-amazon-sell-worldwide-january-2018/

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30.        Statista. 2020. Kennzahlen zu Airbnb Weltweit. Retrieved April 26, 2020 from https://de.statista.com/statistik/daten/studie/419494/umfrage/globaler-ueberblick-von-airbnb/

31.        David J. Teece, Gary Pisano, and Amy Shuen. 1997. Dynamic Capabilities and Strategic Management. Knowledge and Strategy 18, March: 77–116. https://doi.org/10.1142/9789812796929_0004

32.        Walmart. 2020. Our Retail Divisions. Retrieved April 5, 2020 from https://corporate.walmart.com/newsroom/2005/01/06/our-retail-divisions

Christian Betz

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