Fachkräftemangel in der Schweiz

In meinem letzten Blogbeitrag «Führung in Zeiten des Wandels» habe ich Herausforderungen für die Führung der Zukunft angesprochen. Eine für die Schweiz hoch relevante und viel diskutierte Herausforderung ist der Fachkräftemangel. Die Hauptursachen für den Fachkräftemangel und generische Strategien, wie mit dem Fachkräftemangel aus Sicht Führung umgegangen werden kann, stelle ich in diesem Blogbeitrag vor.

Ein wichtiges Ziel jedes Unternehmens ist, die richtigen Mitarbeiter für die richtigen Positionen zu finden. Durch den Fachkräftemangel ist dieses Ziel jedoch zunehmend schwieriger zu erreichen.

Während des Hochs in der Corona-Pandemie entspannte sich der Fachkräftemangel in der Schweiz stark und erreichte im Jahr 2021 einen Tiefpunkt. Als dann die Lockerungen eintraten, setzte ein wirtschaftlicher Nachholeffekt ein, durch den die Zahl der Stellenausschreibungen in die Höhe schnellte, während die Zahl der Stellensuchenden sank. So entstand ein historischer Fachkräftemangel in der Schweiz, der über alle Grossregionen das Vor-Corona-Niveau übersteigt. Es gibt mehr Stellenausschreibungen als Stellensuchende. Vor allem bei der Suche nach SpezialistInnen in Gesundheitsberufen, EntwicklerInnen und AnalytikerInnen für Software und IT-Anwendungen und ingenieurtechnischen Fachkräften (PolymechanikerInnen, SchlosserInnen usw.) hat diese Differenz ein Rekordniveau erreicht (Adecco, 2022).

Eine der Hauptursachen: Demografischer Wandel

Eine der Hauptursachen für den Fachkräftemangel sehen Fachexperten im demografischen Wandel. Der erwerbstätige Bevölkerungsanteil schrumpft und Fachkräfte können nicht schnell genug ersetzt werden. Immer mehr Personen gehen frühzeitig in den Ruhestand bei steigender Lebenserwartung. Die Zuwanderung von Experten aus dem Ausland in die Schweiz kann diesen Effekt nicht ausgleichen; in gewissen Branchen schrumpft sie sogar, auch wenn sich sowohl Immigration als auch Emigration erhöhen (Barsch et al., 2018). Neben dem demographischen Wandel kommt verstärkend hinzu, dass die Anforderungen an die Qualifikationen der Arbeitskräfte höher sind als früher, die Ausbildungen sich aber nicht entsprechend mitentwickelt haben oder können und es in der Schweiz immer mehr Menschen mit Studienabschluss und weniger Fachkräfte gibt.

Wie der demografische Wandel den Fachkräftemangel verstärkt, lässt sich gut am Beispiel von Deutschland illustrieren: In Deutschland reduziert sich der Anteil an erwerbstätigen Personen aus Altersgründen jedes Jahr um ca. 300’000 Personen (ca. 3.4 % der gesamten Schweiz). Die in den letzten Jahren erhöhten Geburten- und Zuwanderungsraten können den demografischen Wandel nicht stoppen. Dies erfordert, das vorhandene Arbeitskräftepotenzial besser zu nutzen. Was können Unternehmen also tun, um ihren Bedarf an Arbeitskräften trotz des Fachkräftemangels zu decken?

Mögliche Strategien zum Umgang mit Fachkräftemangel

Wertorientierte Führung

Eine einfache Stellenausschreibung reicht heutzutage nicht mehr aus, um Fachkräfte anzuziehen, denn Bewerber informieren sich in verschiedensten Onlineportalen / sozialen Netzwerken sehr gründlich über das Unternehmen und suchen Arbeitgeber, die ihren Wertvorstellungen entsprechen. Wichtig ist Arbeitnehmern heute vor allem Selbstverwirklichung; Bonuszahlungen, festes Einkommen oder «super» Jobbezeichnungen verlieren an Bedeutung (Janszky, 2014; Barsch et al., 2018, S. 107).

Konkret wollen Mitarbeiter heute mehr Mitsprache, eine gute Work-Life-Balance, Gesundheitsvorsorge und eine mitarbeiterorientierte Unternehmenskultur (Barsch et al. 2018, S. 109). Konkret umgesetzt werden können Selbstverwirklichung und Work-Life-Balance unter anderem durch flexible Arbeitszeitmodelle.

Eine Studie des Trendforschers Janszky (2017) prognostiziert, dass nur noch max. 40 % der Beschäftigten in klassischen Langzeit-Anstellungsverhältnissen arbeiten werden und sich die Zahl der Selbständigen verdoppeln wird, sodass deren prozentualer Anteil an der Erwerbsbevölkerung auf ca. 20 % anwächst. Die restlichen 40 % arbeiten in Projekten und wechseln ihren Arbeitgeber und sogar den Kontinent, auf dem sie arbeiten, sehr schnell. Es erscheint schon fast wie ein Modewort: «New Work» oder «Arbeitswelt 4.0». Die Begriffe stehen im Zusammenhang mit den Veränderungen der Zusammenarbeit und der Arbeitsprozesse in Unternehmen. New Work reisst hierarchische Strukturen auseinander und etabliert stattdessen Netzwerke im Unternehmen. Es beschreibt Führungskräfte mit temporären Führungsaufträgen, Arbeitsgruppen, die gezielt auftrags- oder projektbezogen zusammenarbeiten und sich dann wieder auflösen und eigene Entscheidungen treffen können. Keine festen Arbeitszeiten oder Arbeitsorte, Home-Office und Vertrauensarbeitszeit stehen im Fokus. Für Unternehmen ist es eine grosse Herausforderung, all dies in Prozesse und in die Kultur zu integrieren.

Fokus auf «Soft Skills» & Weiterbildungen

Es reicht jedoch nicht, das Unternehmen weiterzuentwickeln, um Bewerber mit den passenden fachlichen Qualifikationen anzuziehen. Vollkommen passende Fach- und Führungskräfte zu rekrutieren ist heute wie auch künftig eher unwahrscheinlich. Daher müssen sich die Kriterien für die Bewerberauswahl selbst ändern. In der Praxis zeigt sich, dass Unternehmen, die bei der Bewerberauswahl einen höheren Fokus auf emotionale Intelligenz und die Passung der Persönlichkeit setzen, erfolgreicher sind als Unternehmen, die den Bewerber mit der höchsten fachlichen Eignung suchen (Barsch et al. 2018, S. 17). Ein zu hoher Fokus auf fachliche Eignung kann in Zeiten von Fachkräftemangel kontraproduktiv für die Unternehmen sein. Die Aufgabe der Unternehmen ist es, die Einarbeitung, Anpassungsweiterbildungen und evtl. sogar zweite / dritte Berufsausbildungen in ihre Angebotspalette aufzunehmen, um auf dem Markt attraktiv zu bleiben.

Fachkräfte halten

Während Unternehmen dem Recruiting von neuen Mitarbeitenden viel Aufmerksamkeit widmen, ist die Bindung bestehender Mitarbeitender weniger im Fokus als benötigt. Besonders in Zeiten des Fachkräftemangels erhält Mitarbeiterbindung eine höhere Bedeutung. Es gilt, zielgruppengerechtere und individuellere Lösungen / Instrumente zur Bindung von Mitarbeitenden zu entwickeln. Diese müssen unterschiedlichen Generationen, familiären Verhältnissen und Fach- und Führungskräften gerecht werden. Auf dem Markt wird eine hohe Verweildauer in einem Job zunehmend als Karriere- und Entwicklungsbremse betrachtet, dem muss entgegengewirkt werden, z. B. durch Jobrotation, Weiterbildungsmöglichkeiten verknüpft mit neuen Verantwortungen oder das Ausleihen von Mitarbeitenden an andere Unternehmen. Mitarbeitende wollen ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, sich stets neuen spannenden Aufgaben widmen und ihre Erfolge feiern.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Für Eltern mit kleinen Kindern, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen möchten oder müssen, spielt die familienergänzende Kinderbetreuung eine wichtige Rolle, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten. Etwa 60 % der Familien nehmen eine solche familienergänzende Kinderbetreuung in Anspruch, sei es durch eine Kindertagestätte (Kita) oder durch die Unterstützung von Grosseltern, Nachbarn, Freunden, Tagesfamilien uvm. Die Kitas in der Schweiz sind für viele arbeitstätige Familien eine Notwendigkeit, jedoch sind die Angebote nicht immer in genügender Anzahl vorhanden oder lassen sich nicht mit den Arbeitszeiten vereinbaren. Eine weitere Herausforderung sind die Kosten einer Kita. Bei einer Umfrage zum Thema «Vereinbarkeit Beruf und Familie» 2018 durch das Bundesamt für Statistik, gaben 11 % der Befragten an, dass sie keine Kinderbetreuungsangebote in Anspruch nehmen, da diese zu teuer sind. Durchschnittlich gibt eine Familie in der Schweiz ca. 5-21 % des Haushaltseinkommens für die Kinderbetreuung aus. Wollen Unternehmen qualifizierte & motivierte Arbeitskräfte halten oder neue gewinnen, ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein entscheidender Faktor und sicherlich ein grosser Vorteil, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Einerseits durch flexible Arbeitsmodelle (Teilzeit, flexibler Arbeitsort, flexible Arbeitszeiten) andererseits durch die Anpassung firmeninterner Richtlinien zur Personalentwicklung, sodass ein berufliches Fortkommen in Abstimmung mit familiären Verpflichtungen ermöglicht werden kann. Weiter ist die Unterstützung bei der Kinderbetreuung relevant, damit Eltern die Möglichkeit erhalten, ihr Arbeitspensum zu erhöhen. Diese Unterstützung kann zum Beispiel die Form eines unternehmenseigenen Betreuungsangebots oder einer finanziellen monatlichen Zusatzzahlung pro Kind der Beschäftigten annehmen.

Die Fachkräftepolitik in der Schweiz verfolgt unter anderem auch das Ziel, familienergänzende Angebote zur Kinderbetreuung zu verbessern (BfS, 2018).

Zusammengefasst sind wichtige Faktoren zur Gewinnung und langfristigen Beibehaltung von Arbeitsverhältnissen das Aufzeigen klarer Karriere- und Entwicklungspfade, eine Fokussierung auf Soft-Skills beim Bewerbungsprozess, die Gewährleistung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Ausgestaltung einer werteorientierten Führung, in welcher Sinnhaftigkeit, Wertschätzung, Transparenz und die individuelle Gestaltung der Arbeitszeit wichtiger sind als Status, Prestige oder Karriere.


Quellen:

Barsch, Peter. Gabriele, Trachsel. 2018: Chefsache Fachkräftesicherung. Springer Gabler

Jànszky, Gàbor Das Recruiting-Dilemma, Zukunft der Personalarbeit in Zeiten des Fachkräftemangels,

Haufe Gruppe, 2014

The Adecco Group. Fachkräftemangel Index Schweiz 2022

Bundesamt für Statistik (BfS), 2018: Vereinbarkeit von Beruf und Familie, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/gleichstellung-frau-mann/vereinbarkeit-beruf-familie.html

Joël Eugster

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