Die intelligente Zukunft der Finanzbranche – das Business Ecosystem

Ein Ökosystem ist ein Beziehungsgefüge zwischen einzelnen Komponenten, das erst durch deren Wechselbeziehungen seine volle Wirkung erreicht. Zum besseren Verständnis möchte ich anhand der Produktion von Honig ein anschauliches Beispiel machen. Für das Endprodukt Bienenhonig sind vorab ein fleissiger Bienenstock, ein verlässlicher Imker, eine geeignete Infrastruktur mit Bienenkisten und Honigwaben, die Ernte und die Abfüllung des Nektars sowie eine gute Vermarktung und der Verkauf erforderlich. Der Endkunde kann demnach erst in den Genuss des fertigen Honigs kommen, wenn alle Teilkomponenten erfolgreich zusammenspielen.

Dieser Artikel widmet sich speziell dem Thema Business Ecosystems. Wir im CC Ecosystem verstehen Ecosystems als sich dynamisch entwickelnde Wertschöpfungsnetzwerke verschiedenster Teilnehmer, die mithilfe einer gemeinsamen organisatorischen und transaktionalen Infrastruktur, häufig in Form einer digitalen Plattform, ein übergreifendes Ziel verfolgen (Auge-Dickhut & Burkhalter, 2019). Illustrieren lässt sich das Ecosystem-Konzept beispielsweise anhand der Customer Journey, die ein Kunde beim Erwerb eines Eigenheims durchläuft. Neben der reinen Finanzierung durch ein Finanzinstitut, auf die sich Banken klassischerweise fokussieren würden, gehören zu einem Ecosystem im Bereich Wohnen viele weitere Dienstleistungen, die ein sinnvolles und einheitliches Gesamtkonzept bilden. Dies könnte wie folgt aussehen:            

Eine Familie möchte ein Eigenheim kaufen und macht sich Gedanken zu nachfolgenden Punkten: maximaler Kaufpreis, Haus oder Wohnung, zukünftiger Wohnort, Finanzierung und Absicherung der Familie (Aufzählung nicht abschliessend). Ausgehend von den familiären Bedürfnissen kann nun ein integrativer Kauf- oder Bauprozess aufgezeigt werden, welcher als Orientierung dient und sie während der gesamten Projektphase interaktiv begleitet. Dies kann in Form eines visuellen Zeitstrahls auf einer speziell dazu errichteten Plattform erfolgen. Letztere beinhaltet sämtliche verfügbaren Dienstleistungen, die darin digital vernetzt sind.

Im Zusammenhang mit der Suche nach dem passenden Heim bestehen zum heutigen Zeitpunkt bereits einige Suchmaschinen im Finanzbereich, die Immobilieninserate aggregieren und um weitere Suchkriterien, wie Arbeitsweg, Natur, Umgebung oder Haltestellen ergänzen. Der Käufer kann über die entsprechenden Websites allerdings nicht direkt mit dem Verkäufer in Verbindung treten, sondern wird zunächst an ein externes Immobilienportal weitergeleitet. Es empfiehlt sich jedoch, den Immobilienverkauf und die Erweiterung um zusätzliche Dienstleistungen nicht zu trennen, sondern eine Plattform zu schaffen, die registrierten Nutzern neben dem reinen Immobilienverkauf ein breites Netzwerk weiterer involvierter Instanzen im Immobilien-Bereich zur Verfügung stellt. Der Orchestrator dieses Ecosystems könnte Daten und Suchaufträge erfassen, je nach Ausgestaltung mit weiteren Ecosystemteilnehmern teilen und für konkrete Kundenangebote verwenden. Eine Bank könnte zum Beispiel im Voraus erfahren, dass bald eine grössere Summe an Geld aus einem Verkauf fliessen wird, ggf. nicht nur bei den eigenen Kunden.

Nachstehend möchte ich auf mögliche Subsysteme, welche man in das Ecosystem einbinden könnte, näher eingehen. Es geht mir darum aufzuzeigen, inwiefern Synergien innerhalb des Ecosystems genutzt werden können. Beim Kauf einer Immobilie beispielsweise spielt der Preis für Kunden eine grosse Rolle, da niemand sein Eigenheim überzahlen möchte. Deshalb ist es ein häufiger Wunsch der Kunden, eine Schätzung des Marktwerts einer interessanten Liegenschaft zu erhalten. Zurzeit sind hier hauptsächlich Dienstleistungen mit End-to-End-Prozessen, praktischen Anwendungen und schnellen Entscheiden im Vordergrund. Unter ihnen stehen Start-ups, wie Immosparrow oder PriceHubble. Im Bereich der Finanzierung gibt es ebenfalls junge, digitale Anbieter, welche via kluger Software und Datenauswertung eine grosse Unterstützung bieten. Im Bereich der Vermietung von Wohnungen oder Häusern bestehen Plattformen wie homegate oder flatfox. Auch für die Verwaltung lassen sich existierende Hauswartungen und Immobilienverwalter in das Ecosystem einbinden. Um die Familie und das neue Eigenheim optimal abzusichern, bieten sich Start-ups wie Knip (inaktiv), resurance oder SafeSide an. Rund um das Thema Umzug könnte MOVU in das System involviert werden. Vor dem Einzug in ein bestehendes Objekt fallen meistens zusätzliche Renovationen oder sonstige Änderungen an. Daher wäre auch der Einbezug von Partnern wie Renovero für Kunden interessant, da der Renovationsbedarf in den nächsten Jahren in der Schweiz wohl weiter steigen wird und solche Anbieter immer häufiger gebraucht werden. Nicht zu vernachlässigen sind ebenfalls die steigenden energetischen Modernisierungen im Zusammenhang mit dem Thema Nachhaltigkeit. Genau an dieser Stelle lässt sich der Mehrwert eines Ecosystem gut erkennen. Egal welcher konkrete Anlass den Kunden zum Ecosystem führt oder wie der Kunde auf das Ecosystem aufmerksam wird, er erhält Zugang zu allen darin eingebundenen Anbietern und Leistungen. Egal, ob der Kunde über eine Finanzierung, einen Verkauf, eine Renovation einen Umzug oder eine Versicherung nachdenkt, in einem Ecosystem können alle für einen Kunden relevanten Dienstleistungen zum Thema Wohnen integriert werden und der Kunde automatisch zu Dienstleistungen geführt werden, die für ihn im Rahmen seiner Customer Journey gerade relevant sind.

Ferner könnten Themen wie Smart Home und IoT eine weitere sinnvolle und innovative Ergänzung rund um das Thema Wohnen werden. Digitale Helfer wie Google Home, Alexa oder Apple HomePod werden immer aktueller. Das eigene Heim via Kameras über das Smartphone zu überwachen oder Lichter, Türen, Fenster oder die Raumtemperatur per Voice Commands zu steuern stellt nur eine kleine Auswahl der möglichen weiteren Funktionen dar. Über diese kleinen Helferchen werden sich in Zukunft auch Börsenaufträge, Zahlungen oder sonstige entgeltliche Aufträge erteilen lassen. Finanzielle Abwicklungen oder Vertragsverwaltungen im Hintergrund via Blockchain und Smart Contract liessen sich auch auf alle anderen Dienstleistungen innerhalb eines Ecosystem anwenden.

Über die Finanzbranche hinaus kann jedoch auch die Einbindung von Dienstleistern aus anderen Sektoren einen enormen Mehrwert bringen. Seit der Meldung des Bundesrats vom 17. Oktober 2018 über eine mögliche Liberalisierung des Strommarktes für Private – die letzte Meldung über die Vernehmlassung erschien am 18. Juni 2021 – sehe eine grosse Chance für eine zusätzliche Erweiterung des Ecosystems Wohnen. Heute ist der Schweizer Bürger auf den regionalen Stromlieferanten angewiesen. In Zukunft darf er womöglich selbst wählen, von wo er seinen Strom beziehen möchte. Es entsteht ein neuer Markt. Ich stelle mir ein Comparis für Strom vor, wie dies Verivox in Deutschland ist. Ein Online-Vergleichsportal inklusive durchgehendem Prozess mit Vertragsausstellung und Umschaltung. Sobald der preissensitive Schweizer selbst wählen kann, wird er seine Kosten vergleichen wollen. Bietet man einen solchen Zugang innerhalb eines Ecosystems an, erhalten die einzelnen Beteiligten Zugang zu unzähligen weiteren Haus- und Wohnungsbesitzern, welche früher oder später ihre Dienstleistungen in Anspruch nehmen werden.

Der Einblick in das Ecosystem Wohnen ist nur ein Beispiel von vielen möglichen vernetzten Systemen. Bezüglich eines möglichen Ecosystems im Bereich Anlagen oder Renditeoptimierung denke ich an Alibaba. Die Kunden können sich dort bereits Lohnkonti eröffnen und Gelder überweisen. Sollten sie nicht genug Geld für einen Einkauf haben, erhalten sie beim Check-out die Möglichkeit, einen Kredit von Kabbage oder direkt von Alibaba via Pay Later (BNPL) aufzunehmen. Bleibt am Ende des Monats Geld übrig, legt man es einfach in dem von Alibaba gegründeten Geldmarktfonds an. Hier gäbe es viele weitere Partner, welche zu einem Ecosystem Anlagen hinzugezogen werden könnten, um ein attraktives Gesamtpaket anzubieten. Die Einbindung solcher Finanzdienstleistungen «at your fingertips» wird oft auch Embedded Finance genannt.

Zusammenfassend ist ein Ecosystem eine Vernetzung von sämtlichen relevanten Dienstleistungen in einem bestimmten Marktbereich. Egal über welchen Zugang ein Kunde in das Ecosystem einsteigt, das gesamte System profitiert von der Arbeit und dem Angebot der beteiligten Partner. Anhand dieser Synergien hat jeder einzelne Kooperationspartner die Möglichkeit, an zusätzliche Kunden und wertvolle Daten zu gelangen und kann damit massgeschneiderte Angebote anbieten.

Welche Vorteile hat der Kunde?

Kunden erhalten sämtliche Dienstleistungen aus einer Hand respektive aus einem Ecosystem. Je nach Ausrichtung des Ecosystems kann der Orchestrator die Sicherheit und Professionalität der teilnehmenden Services sicherstellen, indem er zum Beispiel Provider überprüft oder Kontributoren strategisch selektioniert. Aufgrund von Bewertungen und Kundenfeedbacks lässt sich der Service stets verbessern und erneuern.

Welche Vorteile hat der Anbieter?

Die beteiligten Unternehmen gelangen an zusätzliche Kunden sowie einen Zusatzverdienst aufgrund von allfälligen Vermittlungsprovisionen. Ein Ecosystem lebt demnach von der Reputation jedes einzelnen Partners, weshalb alle bemüht sind, ihre Leistungen zur vollen Zufriedenheit der Kunden auszuführen.

Welche Vorteile hat die Entwicklung einer solcher Plattform?

Würde eine Bank ein Ecosystem im Bereich Wohnen orchestrieren, erhielte sie einerseits Zugang zu potenziellen Neukunden. Mit dem Ecosystem hätte sie andererseits die Möglichkeit, über das Thema Finanzen hinaus attraktive Dienstleistungen anzubieten und damit bestehende oder neue Kunden zu binden. Weiter generiert die Bank mit der Vermittlung von Kunden an die involvierten Partner zusätzliche Einnahmequellen. Vor allem auch das Wissen über die Plattformnutzer sowie über deren Absichten stellt für eine Bank ein wertvolles Wissen dar, welches erlaubt, zeitnah über die Pläne von Interessenten informiert zu sein. Somit gelingt es der Bank, von den Kaufabsichten der Familie als erste zu erfahren, sobald diese Suchaufträge, Versicherungsanfragen oder Schätzungen im Ecosystem startet. Da sich in einem bestimmten Bereich meist eine einzelne Plattform im Wettbewerb durchsetzt (Zillmann, 2020), sollte eine Bank vor einem solchen Projekt allerdings genauestens prüfen, ob sie die Fähigkeiten zur Orchestration derselben besitzt und das Risiko eingehen möchte, den Wettbewerb gegen eine andere Plattform am Ende zu verlieren. Auch die Rolle des Kontributors als Anbieter von Finanzlösungen stellt eine lohnende und darüber hinaus vergleichsweise risikoarme Positionierungsmöglichkeit innerhalb eines Ecosystems dar.

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Januar 2019 auf LinkedIn veröffentlicht und war Teil der Blogparade der Schweizerischen Bankiervereinigung zum Thema Open Banking. Die vorliegende Fassung wurde aktualisiert und überarbeitet.


Quellen

Auge-Dickhut, S. & Burkhalter, M. (2019). Ecosystems – Positionierungsmöglichkeiten für die Finanzindustrie. ccecosystems.news. https://ccecosystems.news/ecosystems-positionierungsmoeglichkeiten-fuer-die-finanzindustrie/

Zillmann, M. (2020). Digital Outlook 2025: Financial Services. Strategien von Banken & Versicherungen für ihren Weg in eine digitale Zukunft. Lünendonk & Hossenfelder. https://www.luenendonk.de/produkte/studien-publikationen/luenendonk-studie-2020-digital-outlook-2025-financial-services/

Fabian P. Lehner

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