Der State of the Art im Bereich Künstliche Intelligenz – Eindrücke von der HICSS 2020

Wissenschaftler sind theoretisch arbeitende, sehr korrekte und oftmals zurückgezogene Menschen – so der weitverbreitete Eindruck. Weit gefehlt, wie ich auf der 53. Hawaii International Conference on System Sciences (HICSS) erleben durfte: Von einer Keynote zu «Bullshit» in der wissenschaftlichen Literatur über Erkenntnisse zu Künstlicher Intelligenz (KI) in der Spieleentwicklung bis zur Zukunft des Arbeitens wurden durchweg spannende, sehr diverse und vor allem höchst praxisrelevante Themen adressiert. Im Folgenden gebe ich eine kurze Zusammenfassung:

Abbildung 1: Die 53. Hawaii International Conference on System Sciences – spannende Themen in stimmungsvoller Atmosphäre
Wie Menschen und Maschinen voneinander lernen

In der Spieleentwicklung wird Künstliche Intelligenz schon seit mehreren Jahren beim Design von Spieleumgebungen angewandt. Mittels dieser Anwendungen können die Spieleentwickler z. B. eine Berglandschaft erstellen lassen und dann in letzter Instanz entscheiden, wie gross beispielsweise die Berge oder wie breit die Flüsse sein sollen. Die anstrengende Arbeit wird also der KI überlassen, das Finetuning übernimmt der Mensch – klingt gar nicht mal so schlecht. Wissenschaftler um Prof. Seidel von der Universität Liechtenstein haben herausgefunden, dass dieses neue Arbeiten auch eine neue Form des Lernens hervorbringt – nicht nur bei der KI-Applikation, sondern auch beim Menschen. Der Prozess funktioniert folgendermassen: Der Entwickler bekommt von der KI eine Spieleumgebung vorgeschlagen und kann mittels weniger Regler den Feinschliff vornehmen. Der Entwickler merkt, dass sich die Spieleumgebung unterschiedlich verändert, je nachdem, wie er die Regler betätigt. Der Entwickler lernt hierdurch das System besser kennen. Da das betreffende System jedoch ebenfalls intelligent ist und autonom lernen kann, bemerkt es wiederum, dass der Entwickler seine Aktionen angepasst hat und bietet dem Entwickler daher (hoffentlich) verbesserte Aktionen zur Auswahl an bzw. kalibriert diese entsprechend seiner Nutzung. So könnte z. B. die Sensitivität des Reglers angepasst werden, da der Designer keine sehr hohen Berge modelliert. Demzufolge lernen Mensch und autonome KI-Applikationen gegenseitig voneinander und es entsteht das sog. «triple-loop human-machine learning» (Seidel et al., 2019).

Zeig‘ mir, wie du einen Kreditantrag ausfüllst, und ich sage dir, wie kreditwürdig du bist

Über die Spielewelt hinaus habe ich auch einen Einblick in die Zukunft des Kundenratings erhaschen können. Namentlich hat sich an der HICSS die Firma NeuroID vorgestellt, welche das Kundenrating bereits während des Kreditbeantragungsprozesses vornimmt. Hierzu wird jegliches Verhalten des Kunden während des Ausfüllens analysiert, z. B. in welcher Geschwindigkeit er oder sie tippt, ob Zeichen oft gelöscht werden und wie die Maus auf dem Formular bewegt wird. So kann z. B. herausgefunden werden, ob der Kunde bei einer Eingabe zögert oder ob er Angaben stark verändert, was wiederum ein Indiz dafür sein könnte, dass er oder sie Informationen vorenthalten möchte oder gar falsch angibt. Die Anwendung greift zwar recht stark in die Privatsphäre des Kunden ein und ist laut Unternehmens-Webseite noch nicht auf dem Markt, jedoch ist das Verfahren bereits jetzt erstaunlich präzise und sollte allein deswegen nicht als Silicon-Valley-Spinnerei abgetan werden.

Wissenschaftler im Einsatz gegen Fake News und böswillige Manipulation

Von den technologischen Entwicklungen einmal abgesehen, hat eine wissenschaftliche Konferenz auch den Anspruch, unbequem zu sein. Allein das Wort «Bullshit» wird hierzulande im Titel einer Keynote-Speech in den nächsten paar Jahren sicherlich nicht vorkommen, auf der HICSS ist man hier bereits heute etwas lockerer. Der Titel der Rede von Prof. Wess lautete konkret «Calling Bullshit in an Age of Disinformation» («Blödsinn aufzeigen im Zeitalter der Desinformation») und handelte davon, wie nicht nur in der Politik – ja, es sind bald wieder US-Wahlen –, sondern auch in der Wissenschaft Schindluder mit der Wahrheit getrieben wird und wie man solche Fälle aufdecken kann. Hierbei wird «Bullshit» folgendermassen definiert:

«Bullshit involves language, statistical figures, data graphics and other forms of presentation intended to impress, overwhelm or persuade – presented with a blatant disregard for truth, logical coherence or what information is actually being conveyed.»

Die Mission vom gleichnamigen Projekt Calling Bullshit ist nichts weiter als die Aufrechterhaltung der Wahrheit in öffentlichen Debatten, also vor allem der Politik – ein schwieriges Unterfangen. Im Projekt werden Falschmeldungen oder stark verzerrte Meldungen in Case Studies aufgearbeitet und somit der „Bullshit“ aufgedeckt, z. B. von (mittlerweile) bekannten amerikanischen Nachrichtensendern. Nicht selten kommt man dem Bullshit in den Beispielen mittels logischen Denkens, etwa Kenntnis der adressierten Materie sowie durchschnittlichen statistischen Kenntnissen auf die Schliche. Die Message von Prof. Wess an die Wissenschaftler lautet trotzdem: Die Wissenschaft muss nicht immer überkorrekt im Wording sein, sehr wohl aber bezüglich des Wahrheitsgehalts und der Darstellung ihrer Ergebnisse.

Macht KI uns arbeitslos?

Auf der HICSS ging es auch um die Zukunft des Arbeitens, vor allem aufgrund der Entwicklungen und möglichen Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz. Im Track «Future of Work» stellte Prof. Sampson ein Task Automation Framework vor, welches aus den vier Job-Typen Routinearbeit, zwischenmenschliche Arbeit, Expertenarbeit und zwischenmenschliche Expertenarbeit besteht. Durch Analyse aller Berufe der Job-Datenbank O*NET bezüglich der jeweils geforderten zwischenmenschlichen und kreativen Fähigkeiten kommt Prof. Sampson zu folgenden, beispielhaften Ergebnissen:

  • Die Erstellung von Prüfungen und Webseiten kann automatisiert werden
  • Die Erstellung von Plänen sollte zentralisiert werden
  • Lehrkräfte können höchstens digitale Zwillinge bekommen, da sie aufgrund des hohen Grades an benötigten innovativen und zwischenmenschlichen Fähigkeiten nicht ersetzbar sind

Durch die Ergebnisse der Forschung von Prof. Sampson wird klar, dass weder die Digitalisierung noch die Künstliche Intelligenz alle Jobs vernichten werden. Vielmehr müssen wir uns auf die Neu-Gestaltung von Berufen konzentrieren und uns darauf einstellen, dass uns KI-Applikationen in Zukunft kognitiv stärker unter die Arme greifen werden als die Geschäftsanwendungen heute.

Ein grosses Dankeschön an alle unsere Forschungspartner für die wertvolle Erfahrung

Und zu guter Letzt: Ja, natürlich war es schön auf Maui, wie das folgende Foto beweist. Allerdings sind wissenschaftliche Konferenzen zur Erweiterung des fachlichen Horizontes in der Tat sehr wichtig, da man hier die Koryphäen des Fachgebiets antrifft und die eigene Forschung auf die Probe stellen kann – meinen Konferenz-Artikel gibt es in den Referenzen. Eine sehr schöne Erfahrung, für die ich sehr dankbar bin und deren Früchte ich gerade in Form von Forschung zu ernten versuche – vielen Dank für die Unterstützung an alle Forschungspartner des Competence Center Ecosystems!

Quellen

Dietzmann, C., & Alt, R. (2020). Assessing the business impact of Artificial Intelligence. In Proceedings of the 53rd Hawaii International Conference on System Sciences.

Sampson, S. (2020). Predicting Automation of Professional Jobs in Healthcare. In Proceedings of the 53rd Hawaii International Conference on System Sciences.

Seidel, S., Berente, N., Lindberg, A., Lyytinen, K. and Nickerson, J.V. (2019). Autonomous tools and design: a triple-loop approach to human-machine learning.Communications of the ACM, 62 (1), 50-57.

Christian Dietzmann

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