Das oft vergessene Needfinding

Gute Produkte reagieren auf die Nachfrage der Kunden, großartige Produkte reagieren auf die Bedürfnisse der Verbraucher

Was zunächst trivial klingt und am Anfang vieler Design-Thinking-Workshops in Unternehmen steht, stellt sich in Wirklichkeit oft schwieriger dar als erwartet. Die Problematik liegt in der Tatsache, dass die eigentlichen Kundenbedürfnisse vielfach mit eigenen Lösungsvorschlägen umschrieben werden (z. B. «der Kunde braucht ein Auto» anstelle von «der Kunden möchte von A nach B») und daraus andere Vorgaben für Produktentwicklung und Dienstleistungserstellung resultieren. Entscheidend ist es daher, nicht die altbekannten Lösungen zu Bedürfnissen aufzuwerten – denn damit ermöglicht man allenfalls Verbesserungen des Bestehenden – sondern nach Mustern Ausschau zu halten, die Aufschluss darüber geben, welche wirklichen Probleme es für den Kunden zu lösen gilt.

Menschliches Verhalten wird durch das Verlangen nach Bedürfnisbefriedigung motiviert, wie zum Beispiel durch das Verlangen, etwas nicht Vorhandenes zu ermöglichen (z. B. schneller von A nach B zu kommen) oder einen Zustand zu verändern (z. B. mehr Sport zu treiben). Im Design-Thinking-Prozess werden Bedürfnisse häufig durch Verben ausgedrückt. Manchmal wissen Personen allerdings selbst nicht, was ihre Bedürfnisse sind. Stattdessen erzählen sie direkt von potentiellen Lösungen (z. B. «ich brauche ein Auto»).

Geschulte Design Thinker identifizieren häufig im Alltag Bedürfnisse durch die Interaktion mit anderen Personen. In unserer Erfahrung mit Unternehmen wird dieser wichtige Schritt im Design-Thinking-Cylce aber meistens übersprungen, um direkt mit der Ideengenerierung und dem Prototyping zu beginnen. Methoden für ein systematisches Vorgehen, welches sich insbesondere bei der Suche nach dem Wertversprechen lohnt, sind unter anderem Interviews, Teilnahme, Beobachten und Benchmarking. Mithilfe dieser Methoden werden Bedürfnisse zunächst gesammelt, um in einem zweiten Schritt, der «Interpretation», evaluiert zu werden. Im Folgenden geben wir einen Überblick über die vier eben genannten Tools:

  • Das Beobachten ist eine grundlegende Erhebungsmethode, bei der menschliches Verhalten, beispielsweise bei einer Aktivität, bei der Lösung eines Problems oder bei der Nutzung von Dienstleistungen und Produkten betrachtet wird. Der Beobachter verhält sich passiv, um die Personen unverfälscht in ihrem natürlichen Umfeld agieren zu lassen und dokumentiert dieses Verhalten (Videos, Fotos etc.). Bei den Auswertungen können so Muster identifiziert werden, die objektive Rückschlüsse auf die dem Verhalten zugrundeliegenden Bedürfnisse ermöglichen.
  • Bei der Teilnahme, die zu den aktiven Methoden gehört, wird die Kundensituation selbst erlebt oder miterlebt. Beispielsweise gibt man sich als Neukunde in einer Bank aus, um den Kontoeröffnungsprozess zu durchlaufen. Ziel ist es vor allem, Empathie für die Situation der Nutzer aufzubauen. Durch den vertieften Einblick ist es möglich, sich von subjektiven Vorstellungen zu distanzieren. Das kundenzentrierte Wissen über die Prozesse hilft dabei, neuartige Erkenntnisse im Rahmen der Bedürfnisfindung zu erlangen.
  • Das Benchmarking auf der anderen Seite beschreibt wiederum eine passive Methode. Ähnlich einer Desk Research oder Marktanalyse steht hier die Suche nach ähnlichen Situationen in anderen Lebensbereichen im Mittelpunkt. Wertvolle Informationen werden gesammelt, indem man in diesen Situationen ähnliche Prozesse identifiziert. Beispielsweise sind die Prozesse in einem Operationssaal mit denen eines Formel-1-Boxenstopps vergleichbar. In beiden Fällen ist ein exaktes und schnelles Vorgehen mit einer Fehlertoleranz gegen Null unabdingbar.
  • Unter dem Interview wird hingegen eine interaktive Methode verstanden. Man möchte hierbei Motive, Verhalten, Absichten und Meinungen verstehen und hinterfragen. Als Zielgruppe eigenen sich verschiedene relevante Personen wie Experten, Kunden oder Kritiker. Das Grundprinzip des Needfinding sollte dabei gleich bleiben. Durch offene Fragen sollte man dem Interviewpartner Raum geben. Häufig hilft bei der Dokumentation die Nutzung von Audioaufnahmen, Transkripten, Videos oder Fotos. Eine Spezifizierung dieser Methode ist die sogenannte 5-Why-Fragetechnik, die angewendet werden kann, um effektiv auf grundlegende Bedürfnisse zu stossen.

Obwohl das Needfinding im Design-Thinking-Prozess oft vernachlässigt wird, handelt es sich bei der Bedürfnisfindung um ein sehr wirksames Vorgehen, um sowohl inkrementelle als auch radikale Innovation von Produkten, Services oder Prozessen zu ermöglichen.

Exkurs Needfinding – 5-Why-Fragetechnik als Interviewmethode

Als Beispiel für den Prozess des Needfindings wird im nachfolgenden Exkurs die 5-Why-Fragetechnik als nützliches Instrument zur Bedürfnisermittlung in Interviews mit Nutzern, Kunden und Stakeholdern vorgestellt. Das Ziel dieser Technik ist es, schrittweise immer tiefere Einblicke in die grundlegenden Bedürfnisse der Interviewpartner zu erhalten. Hierbei ist die Zahl 5 symbolisch zu verstehen. Der Interviewer sollte solange nachhaken, bis sich ein oder mehrere Bedürfnisse formulieren lassen.

Im dargestellten Beispiel wird zunächst der Themenkomplex mit einer offenen Frage abgegrenzt. In unserem Fall möchten wir die Bedürfnisse unserer Zielgruppe auf dem Weg zur Arbeit ableiten. Neben dem Aufbau von Empathie wird mit den ersten Fragen nach und nach versucht, zu den eigentlichen Gründen der initialen Antwort vorzustossen. Es stellt sich heraus, dass sich hinter der ersten Aussage, «eine angenehme und ruhige Fahrt haben zu wollen», wesentlich mehr verbirgt als zunächst angenommen. Nach einer Konkretisierung seitens der interviewten Person, sich durch eine angenehme Fahrt entspannter und konzertierter zu fühlen, zeigt sich die eigentliche Absicht: Die Art und Weise, wie die Wegstrecke zum Arbeitgeber gestaltet wird, hat für den Nutzer das Ziel, seine Kollegen auf der Arbeit besser zu unterstützen und damit eine bessere Leistung zu erbringen. Diese zuletzt genannten Aussagen lassen sich nun als eigentliche Bedürfnisse umformulieren, welche Verbundenheit sowie Kompetenz in den Vordergrund stellen. Das Wissen um diese Bedürfnisse kann beispielsweise in die Entwicklung von neuen Mobilitätslösungen einfliessen, um Produktanforderungen noch kundenfokussierter zu konzipieren.

Abschliessend kann gesagt werden, dass Bedürfnisse nur schwer zu identifizieren sind. Um sie trotzdem aufzudecken, ist von Beginn an ein systematisches Vorgehen nötig. Das Konzept des Needfindings bietet mit den vorgestellten Methoden wertvolle Werkzeuge, um effizient zu den eigentlichen Motiven einer bestimmten Zielgruppe vorzustossen. Dies bedeutet für das Unternehmen oft kurzfristigen Aufwand, der sich jedoch langfristig auszahlt.

 

Quellen: 

Uebernickel, F., Brenner, W., Pukall, B., Naef, T. & Schindlholzer, B. (2015). Design Thinking: Das Handbuch. Frankfurter Allgemeine Buch.

Lewrick, M., Link, P. & Leifer, L. (2017). Das Design Thinking Playbook. München: Vahlen.

Roger Heines

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